Friedhofslaub knistert unter den Schuhen, auch bei einem virtuellen Spaziergang. Gedenkstättenleiter Andreas Ehresmann nimmt häufig Schulklassen mit auf den früheren Lagerfriedhof von Sandbostel. Nun begleitet ihn der Schatten eines Kameramanns auf Schritt und Tritt. „Wenn Sie mir folgen ...“, sagt Ehresmann nach einer kurzen Einführung und schreitet zur Pforte. Mal in Echtzeit, mal mit Zeitraffer geht er voran, immer wieder hält er inne, um die Geschichte dieses Trauerortes zu erzählen. Aus einem Rundgang anlässlich des Volkstrauertages, der abgesagt werden musste, ist ein jederzeit abrufbares 30-Minuten-Video geworden.
Auf dem Gelände der Kriegsgräberstätte ruhen die im Kriegsgefangenenlager verstorbenen Kriegsgefangenen in Einzel- und in Massengräbern. Jede Zeit hat ihre Spuren hinterlassen, nicht nur die des Kalten Krieges. Wie sich Erinnerungskultur im Laufe der Jahrzehnte verändert hat, kann der Historiker seinem imaginären Onlinepublikum an Ort und Stelle zeigen. Die sowjetischen und polnischen Monumente beispielsweise sind schon früh durch steinerne Kreuze ersetzt worden. Gerade im sowjetischen Teil des Friedhofes, wo unter anderem auch Moslems und Atheisten ruhen, wirkt eine allein christliche Symbolik, ein russisch-orthodoxes Kreuz, befremdlich. „Angehörige, die aus Russland kommen, sind häufig irritiert.“ Die Stelen „Euer Opfer“, „Unsere Verpflichtung“ und „Frieden“ wiederum verraten nichts darüber, wer hier liegt und wem diese Menschen aus mehr als 50 Nationen zum Opfer gefallen sind.
An einigen Stellen legen Angehörige oder andere Besucher Blumen oder Erinnerungszeichen ab, wie die Engelsfiguren, die der Gedenkstättenleiter an diesem Tag zum ersten Mal sieht. „Es ist ein menschliches Bedürfnis, einen individuellen Trauerort zu haben“, sagt er in die Kamera. Viele der Namen aus den Massengräbern seien bekannt, aber es sei nicht zuzuordnen, wo die Toten liegen. „Bis heute ist nicht klar, wie viele Menschen hier bestattet sind.“ Allein 4670 sowjetische Namen sind dokumentiert. Es dürften aber deutlich mehr Tote aus der Sowjetunion in Sandbostel bestattet sein. „Wir haben auch viele Namen von verstorbenen KZ-Häftlingen aus Neuengamme und Pläne der Gräber, aber keine Liste, wo man einen Namen einer Nummer zuordnen kann.“ Die Leichen von Frauen sind nach jetzigem Wissensstand nicht darunter, denn weibliche Gefangene waren an andere Orte überstellt worden.
Der Friedhof ist bei Einhaltung der Corona-Regeln zugänglich, die Gedenkstätte geschlossen. Das Team arbeitet weiter, etwa am Totenbuch und am Jahresprogramm 2021. „Wir haben gerade Fördergelder bewilligt bekommen, der Friedhof wird kommendes Jahr saniert“, sagt Andreas Ehresmann, kurz bevor er die aufrecht stehenden Betonplatten erreicht, die beidseitig mit Ziegeln versehen sind. An dem Jugendbildungsprojekt in Kooperation mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und der Gemeinde Sandbostel werden etwa 10 000 Jugendliche mitgewirkt haben, wenn es fertig ist.
Auszubildende aus dem Bereich Betonbau gießen die Stelen, andere ritzen Namen und Daten in den Ton, damit deutlich wird: In diesen Massengräbern liegen Individuen. Es waren Menschen unterschiedlicher Herkunft, die ihre Heimat nicht wiedergesehen haben, Männer wie Nikolai, Konstantin, Suleiman, Pawel, Karim, Jakov und Sergej.
Weitere Informationen
Telefonkontakt zur Gedenkstätte Lager Sandbostel unter 0 47 64 / 225 48 10. Das Video ist auf www.stiftung-lager-sandbostel.de verlinkt.
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