Tarmstedt. 15 Mal hat Thomas Werner in Tarmstedt einen offenen Gesprächskreis geleitet, in dem es einmal im Monat in kleiner Runde um Ethik, also die Grundfragen des Lebens, ging. Der krönende Abschluss dieser Reihe fand jetzt im vollbesetzten Forum der KGS statt, wo 300 Menschen einem Mann zuhörten, der sich seit Jahren intensiv mit dem Thema beschäftigt und dazu eine Menge zu sagen hat: Wolfgang Huber, promovierter Theologe und früherer Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), war eigens für diese Abendveranstaltung angereist. Seine von der Akademie der Wochenzeitung Die Zeit herausgegebenen 16 Impulsvorträge zum Thema Ethik waren Grundlage für Werners Gesprächskreis.
Nun also war Huber live zu erleben. 77 Jahre soll der Mann alt sein? Das sah man dem früheren Bischof weder beim agilen Überwinden der drei Stufen zum Podium an noch bei seinen Ausführungen. Zum Warmwerden stellte er dem Publikum Fragen, zum Beispiel diese: Ob es bei der Ethik eher ums Bewahren oder Verändern gehe? Dazu müsse man wissen, was bewahrt werden solle, denn es gebe grausame Sachen, die nicht fortgeführt werden sollten, sagte eine Frau aus dem Saal. Eine andere Frau sprach von einem ständigen Prozess, die Fragen ans Leben seien einem stetigen Wandel unterzogen. Ähnlich sah es Huber: „Ethik kann nie so bleiben wie sie mal war.“ Ethische Prinzipien, die vor einer oder zwei Generationen wichtig waren, dürften selbstverständlich in Frage gestellt werden.
Wie wird man Weltbürger?
Später gab Huber differenzierte Antworten auf scheinbar einfache Fragen, die er vom Tarmstedter Gesprächskreis vorab bekommen hatte. „Verantwortung: Wie wird man Weltbürger?“, war eine davon. Dazu gab er an, dass er nicht zum Weltbürger erzogen worden sei, sondern zum Patrioten. „Mir wurde beigebracht, trotz der Verbrechen des Nazi-Regimes Ja zu meinem Vaterland zu sagen, ich sollte mein Land genauso lieben wie andere Menschen ihr Vaterland.“ Gleichwohl betonte Huber, dass es ein Weltbürgerrecht gebe, das auf der Erklärung der Menschenrechte von 1948 basiere. Die Idee, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben, sei aber noch älter. Der Philosoph Immanuel Kant habe 1795 „die kühne Idee“ geäußert, dass es dauerhaften Frieden geben werde, wenn alle Staaten Rechtsstaaten würden und diese Staaten durch Bündnisse zusammenrückten.
Heute, so Huber weiter, sei die Welt in der „verblüffenden Situation“, dass die universelle Achtung der Menschenrechte technisch betrachtet möglich geworden sei. Nicht durch die Klugheit der Politiker, sondern durch die Digitalisierung und die Möglichkeiten des Internets könnten Verstöße gegen die Menschenrechte in Echtzeit überall auf der Welt wahrgenommen werden. „Es könnte vieles verhindert werden“, so Huber, dennoch komme es auch heute noch ständig zu schlimmen Verbrechen bis hin zum Völkermord, ohne dass aufgeklärte Weltbürger entschlossen einschritten. Es bräuchte also mehr Weltbürger, doch wie wird man das? „Durch das Tun“, sagte Huber. Ginge es nach ihm, würden Schüler regelmäßig praktische Erfahrungen in sozialen Brennpunkten oder Altenheimen machen müssen. Dabei würden sie lernen, Verantwortung zu übernehmen, und ihr Interesse an miserablen Zuständen vor Ort und auch in anderen Ländern würde geweckt.
Um Verantwortung ging es auch im zweiten Teil des Abends, einer Gesprächsrunde mit ausgewählten Teilnehmern. Wie schwierig das mit der Verantwortung sein kann, machte Frauke Bruns am Beispiel von Autobatterien deutlich. Viele von ihnen würden zum Recyceln des Bleis nach Afrika verfrachtet, wo weder auf Arbeits- noch auf Umweltschutz geachtet werde. Sie fühle sich machtlos. „Wir haben Scheuklappen“, stellte die Schülerin Rabea Heitmann fest. Viele Menschen seien hier schon „mit ihren kleinen Problemen überfordert“, da werde vieles verdrängt, was weit weg in der Welt passiere. „Konsum hat immer Folgen“, sagte Janne Stoltze, die ebenfalls nächstes Jahr Abitur macht. Das habe sie bei einem Schulprojekt an der KGS festgestellt, bei dem Schüler untersucht hätten, ob der Einsatz von Tablets nachhaltiger sei als der Gebrauch von Papier.
André Fesser, Redaktionsleiter der WÜMME-ZEITUNG, konstatierte „eine große Ratlosigkeit“, wenn es um die Bewältigung der großen Menschheitsprobleme wie dem Klimawandel gehe. Rabea Heitmann fragt sich oft selbst, „ist es überhaupt möglich, sich richtig zu verhalten?“ Wolfgang Huber warnte vor Schwarzseherei und Pessimismus und riet: „Wir sollten uns große Ziele setzen, diese aber versuchen, in kleinen Schritten zu erreichen und dabei nicht stehen zu bleiben.“
Eine weitere Essenz des Abends formulierte Thomas Werner: „Gespräche sind wichtig, die Menschen müssen sich austauschen.“ Das hatte Wolfgang Huber zuvor schon allen ans Herz gelegt, als es um Radikaliserung und Spaltung der Gesellschaft ging: „Es ist unser aller Aufgabe, die Menschen zu erreichen, die verführbar sind von extremen Positionen.“ Man müsse frühzeitig den Kontakt suchen zu Menschen, die wegen einer Enttäuschung extremistische Parteien wählen.