Tarmstedt. Ruhig, sachlich, ohne sich gegenseitig ins Wort zu fallen und regelmäßig höflich-freundlicher Applaus, so verlief die Podiumsdiskussion im Forum der Kooperativen Gesamtschule mit Kandidaten der im Bundestag vertretenen Parteien für die Europawahl – nicht alle aus dem Wahlkreis Rotenburg. Nur beim gegenseitigen Loben ganz am Schluss gab es eine kleine Panne, aber die war fast vorauszusehen.
250 Schüler aus dem zehnten bis zwölften Jahrgang hatten sich im Forum versammelt, zwei von ihnen saßen auf dem Podium: Jeremy Borgmeyer und Noah Rothfuchs zwischen je drei Kandidaten zur Linken und zur Rechten moderierten die Diskussion. Am Anfang durfte sich jeder Kandidat ungehemmt selbst loben, aber nur eine Minute lang; kurze Überziehungen wurden geduldet. Jan-Christoph Oetjen von der FDP bezeichnete sich aufgrund seines Listenplatzes als den einzigen Rotenburger Kandidaten mit einer reellen Chance. Die EU sei nicht nur ein Friedensprojekt, sondern habe auch viele Aufgaben, die auf nationaler Ebene nicht gelöst werden könnten. Für David McAllister ist die CDU in der Tradition von Kohl und Adenauer die Europa-Partei. Die Zukunft Deutschlands sei am besten in einem friedlich vereinten Europa aufgehoben, auch wirtschaftlich. Das sah Stefan Wirtz naturgemäß anders. Der AfD-Kandidat aus Braunschweig meinte, die EU sei in der Krise, und seine Partei könne im Europaparlament vieles in Bewegung bringen, was sich sonst nicht ändern würde.
Philosoph im Weißen Haus
Für Nils Hindermann (SPD) braucht die EU mehr sozialen Zusammenhalt, besonders bei den Arbeitnehmerrechten. Aber die einzige Partei, die sich in den vergangenen Jahrzehnten konsequent für Klimaschutz eingesetzt habe, seien die Grünen, sagte Ulrike Liebert, Kandidatin aus Bremen, während für Nils Bassen die Linke die einzige Partei ist, die sich massiv gegen Rassismus, Nationalismus und Waffenexporte stellt.
Dazu passte Jeremy Borgmeyers nächste Frage zur Stellung der EU in der Welt. Seit 2017 strebten 17 EU-Staaten unter dem Projektnamen Pesco eine verstärkte militärische Zusammenarbeit an, sagte er – inzwischen machen außer Dänemark, Malta und Großbritannien alle anderen 25 Mitgliedsstaaten mit, berichtigte David McAllister, der federführend an diesem Projekt beteiligt war. Bis 2025 solle es eine EU-Verteidigungsunion geben. „Kooperieren ja, aber keine EU-Armee“, sagte Nils Bassen, während Jan-Christoph Oetjen multinationale Einheiten auf Grundlage schon bestehender wie dem deutsch-niederländischen Korps aufbauen will. Nach Ansicht von Stefan Wirtz sind 70 Jahre Frieden in Europa nicht das Verdienst der EU, sondern der NATO. „Die steht sehr unter Stress“, meinte Ulrike Liebert, auf die USA sei derzeit kein Verlass. Auch Nils Hindermann glaubt, es werde ein europäisches Gegengewicht zu den USA gebraucht – anders als noch zur Zeit des ehemaligen Western-Schauspielers Ronald Reagan waren sich die Diskussionsteilnehmer weitgehend über die Qualitäten des derzeitigen US-Präsidenten Donald Trump einig; David McAllister nannte ihn ironisch „den Philosophen im Weißen Haus“.
Stefan Wirtz meinte, die NATO reiche als Verteidigungsbündnis für Europa, David McAllister dagegen hat eine Vision: „Wenn es nur noch eine europäische Armee gäbe, wären keine innereuropäischen Kriege mehr möglich.“ Das ist auch für Jan-Christoph Oetjen das Ziel auf weite Sicht, aber man müsse Schritt für Schritt beginnen, nicht mit allen EU-Staaten auf einmal. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal Jan-Christoph Oetjen Recht geben würde“, sagte Nils Hindermann – aber in Marsch gesetzt werden dürfe eine EU-Armee nicht nur vom Europaparlament, auch der Bundestag müsse darüber entscheiden. Ulrike Liebert sieht dabei Schwierigkeiten mit dem Mehrheitsprinzip, wenn auf anderen Gebieten zwischenstaatlich entschieden wird, und Nils Bassen wünschte sich die Leidenschaft dieser Diskussion auch für Sozialpolitik und Klimaschutz: „Das ist wichtiger als eine Armee.“
Beim Schutz der eigenen Daten im Internet waren die Meinungen, abgesehen vom Urheberrecht, nicht weit auseinander. Als erstes müsse jeder selbst aufpassen, wem er seine Daten anvertraue, lautete der häufigste Ratschlag. „Inline-Skater kann man auch im Sporthaus kaufen statt bei Amazon“, meinte Jan-Christoph Oetjen. Beim Klimaschutz herrschte auch weitgehend Einigkeit – lediglich der AfD-Kandidat meinte, der Klimawandel lasse sich nicht mehr verhindern, man könne nur seine Folgen bewältigen.
Trotz allgemeiner Disziplin der Diskutierenden war es doch plötzlich elf Uhr geworden, statt der Fragen aus dem Publikum folgte die Endrunde: Jeder sollte einen anderen loben. David McAllister (CDU) suchte sich Jan-Christoph Oetjen von der FDP aus, der lobte Nils Bassen von den Linken. Nils Hindermann (SPD) entschied sich für Ulrike Liebert (Grüne), die gab das Lob zurück, und Nils Bassen hatte damit nur noch die Wahl zwischen CDU und AfD. Also wünschte er David McAllister „weiterhin“ viel Erfolg im Europaparlament, was aus dem Munde eines Linken-Politikers wohl als sehr großes Lob gewertet werden darf. Das Problem war jetzt nur, dass sich niemand selbst loben durfte – deshalb musste AfD-Kandidat Stefan Wirtz das Podium ungelobt verlassen.
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