Kultur-Festival mit berührendem Programm Zollhausboys erobern Sudweyher Bahnhof

Der Sudweyher Bahnhof ist noch nicht ganz saniert, nimmt als Veranstaltungsort aber schon Fahrt auf. Davon konnten sich die Besucher am Sonnabend bei einem Konzert mit den Zollhausboys überzeugen.
17.06.2018, 16:22 Uhr
Lesedauer: 3 Min
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Von Anke Bayer-Thiemig

Weyhe-Sudweyhe. Als überaus gelungen konnte das erste Konzert am fast fertig gewordenen Sudweyher Bahnhof bezeichnet werden. Und um es vorweg zu nehmen, das besondere am Sonnabendabend war, dass Pago Balke, Schlagwerker Gerhard Stengert und die Zollhausboys ihre Lieder nicht nur sangen, sondern mit ganzem Herzen fühlten. Sie verstanden es, durch die Texte und Melodien die Zuhörer zu inspirieren, über ihr eigene Lebensgeschichte nachzudenken. Ihre Bühnenpräsenz war einzigartig, die Musiker erreichten und berührten mit ihrem künstlerischen Programm aus Songs, Tanzeinlagen, Kabarett und Poetry wohl jeden Besucher. Im Gepäck: Marimbafon, Vibrafon, Gitarre, Schlagzeug und die verschiedensten exotische Percussion-Instrumente.

Unter dem Titel „Kultur-Festival für jedermann“ hatte der Verein Sudweyher Bahnhof den Kabarettisten, Sänger, Regisseur und Autoren Balke, Stengert und die Zollhausboys, eine junge Band mit Bremer Neubürgern aus Syrien, eingeladen. Zollhausboys nennen sie sich, weil Pago Balke aus Riede die Jungs in einer Bremer Flüchtlingsunterkunft namens Zollhaus traf, Balke hatte dort ein kleines Konzert gegeben. So entstand die Idee für ein gemeinsames Projekt. „Wie die Stadtmusikanten haben wir Zuflucht genommen und sind im Zollhaus angekommen. Es ist vielleicht nicht der Himmel auf Erden, doch wenn wir es wollen, kann es wunderbar werden“, hieß es in dem von Pago Balke getexteten und komponierten Song. Das erste Konzert war gut besucht, hatten doch die Verantwortlichen viel Werbung gemacht. Etliche Bierbänke und Stehtische direkt neben den Gleisen waren besetzt, als Vorstandsmitglied Christine Burda die Gäste begrüßte und weiterhin „Kunst und Kultur am Gleis“ versprach.

Voller Wehmut und Sehnsucht sangen die vier jungen Männer von Schmetterlingen im Bauch, wenn sie an die weit entfernte Liebste denken, vom sternenklaren Himmel, der plötzlich mit Bomben und Granaten aufgerissen wurde. Azad Kour, Ismaeel Foustok, Delyar Hamza und Shvan Sheikho, in den Jahren 1999 und 2000 geboren, überzeugten auf ganzer Linie. Zwischendrin hatte Balke einige Soloauftritte, die in amüsanter Weise den Grundtenor der Veranstaltung wiederkehren ließen. Im „Schweizer Traum“ beschrieb Balke die chaotischen Zustände in Deutschland mit einer Kanzlerin, die sich mithilfe von Schleppern in einem Boot bei Nacht und Nebel über den Bodensee rettete. Darin reimten sich übrigens Gott und Komplott oder klar und Angela.

Viele der Arrangements waren autobiografisch und spiegelten die Erlebnisse und Emotionen der Geflüchteten wider. Gleich zu Beginn weckte der Titel „Aleppo“ Gemeinsamkeiten mit Pago Balkes Bremen-Beschreibung: „1945 war die schöne Stadt zerbombt, am Boden, einfach platt.“ Und mehrstimmig sangen die „Zollhausboys“ vom heute zerstörten Aleppo: „Da komm ich her. Ich floh über Land, ich kam übers Meer.“ Ganz ungefährlich übrigens für die Besucher: Keine Flucht, kein Zurücklassen von Familienmitgliedern, keine Bewältigung von Traumata. Nur ein genaues Hinhören oder Fühlen waren angesagt, denn die jungen syrischen Bremer Neubürger sangen nicht nur auf Deutsch und Englisch, sondern auch auf Arabisch und Kurdisch.

Gemeinsam mit dem Publikum ging es in den Liedern und Texten durch Höhen und Tiefen, Freude und Schmerz, um nach Antworten zu suchen, die durch das Leben tragen können. Für Gänsehaut sorgte „Regen am Fenster“. Zu sanften musikalischen Tönen, die an das rhythmische Prasseln kleiner Regentropfen an eine Fensterscheibe erinnern, wurde vom Geruch des Regens, der Heimatgefühle entflammte, erzählt. „Männer weinen nicht“, „We Are One World“, „Fremd ist der Fremde“, „Coming From Aleppo To Paradise“, „Habibi, lass uns tanzen“ oder „Kobani“: Manchmal waren die Songs zornig und traurig zugleich. Aber die Musiker boten neben der schweren Kost auch lustige Glanzpunkte. Beispielsweise der Einbürgerungstext. „Wir stammen alle von Fischern ab. Und die hießen fast immer Fritz", so Balke. Wichtig sei es deshalb, den bekannten Zungenbrecher „Fischers Fritz“ exakt zu beherrschen. Multikulti also nicht als Problem, sondern in seiner schönsten Präsentation. Der Abend und viele Stücke waren aber auch gleichzeitig eine kulturelle Attacke gegen den Rechtspopulismus und gegen das Fremdeln gegenüber den Menschen, die hier gelandet sind. „Ich muss unter Leute, aus meinem Zimmer raus. Wenn ich zu viel allein bin, raste ich aus.“ Es bleibt der Blick aufs Handy. Hat die Familie geschrieben? Der kleine Kasten ist das Stück Heimat geblieben.

„Hey Jungs, ich ziehe vor euch den Hut.“ Mit diesem letzen Song sprach Pago Balke, der übrigens erst kürzlich den Kultur-und Friedenspeis der Bremer Villa Ichon erhalten hat, vielen Besuchern aus dem Herzen.

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