Nindorfer Schäfer Jörk Hehmsoth fürchtet sich vor dem Isegrim / 650 Lämmchen pro Jahr Das Schweigen der Schnucken

Landkreis Verden. Mit dem Hütestab in der Hand spaziert Jörk Hehmsoth über die Wiese. Am unteren Ende befindet sich ein Beinfanghaken.
16.03.2016, 00:00 Uhr
Lesedauer: 4 Min
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Von Jörn Dirk Zweibrock

Mit dem Hütestab in der Hand spaziert Jörk Hehmsoth über die Wiese. Am unteren Ende befindet sich ein Beinfanghaken. Damit kann der Schäfer jede beliebige Heidschnucke aus der Herde ziehen. Wenn der Nindorfer ruft, folgen ihm die gehörnten Tiere samt ihren pechschwarzen Lämmern blind. „Mit meinen Schnucken rede ich Plattdeutsch, mit meinen Hütehunden Hochdeutsch“, erzählt er, krault dabei einem seiner beiden Border Collies das wuschelige Fell.

Hehmsoth liebt seine Hütehunde, sie gehören zu seinen treuesten Begleitern. Obwohl der Wolf in den vergangenen Wochen bereits in Uphusen und Intschede gesichtet wurde, will sich der Nindorfer Schäfer vorerst keinen Herdenschutzhund zulegen. „Die gemmeln dann mit meinen Lämmern rum, reißen ihnen die Ohrmarken raus oder rupfen ihnen die Wolle aus“, befürchtet Hehmsoth, zieht mit seiner Herde weiter über die Wiese. Ist er im Sommer mit seinen Schnucken auf den Aller- und Weserdeichen im Landkreis Verden unterwegs, spenden sich die Tiere selber Schatten. „Ein Herdenschutzhund buddelt sich gleich ein tiefes Loch. Was meinen Sie, was dann der Deichverband dazu sagt?“, fragt sich Jörk Hehmsoth. Im Landschaftsschutzgebiet würden seine Heidschnucken brav um die Gelege herum treten, ein Herdenschutzhund würde sie sofort plündern, befürchtet der Heidschnuckenzüchter, ergänzt aber: „Per se sollte man Hunde wie Kangas, Maremmanos oder Pyrenäen-Berghunde aber nicht gleich verdammen.“ Seiner Ansicht nach würden sie aber „eine Menge Probleme verursachen“, spielt der Nindorfer auf Anschaffungs- und Unterhaltungskosten an. Nicht zu vergessen die zusätzlichen Mitarbeiter, die der Schäfer für ihre Betreuung einstellen müsste. „Meine Heidschnucken stehen bei Wind und Wetter draußen. Nähert sich der Herde nachts ein Fuchs oder Marder, fangen die Hunde sofort an zu bellen. Wir sind ja hier nicht in der Pampa. Da werden sich die Nachbarn aber freuen“, mutmaßt der Schäfer. Das Risiko, dass jemand von einem Herdenschutzhund angegriffen werde, sei ihm einfach zu hoch, „das möchte ich einfach nicht riskieren“.

Frank Faß, Wolfsberater für den Kreis Verden, würde dagegen jedem, der gewerblich Nutztiere züchtet, so einen Herdenschutzhund empfehlen. Mit 1000 Euro jährlich würden diese Tiere in der Unterhaltung zu Buche schlagen. Deren Anschaffung würde das Land Niedersachsen aber zu 80 Prozent fördern. Faß ist allerdings nicht bekannt, ob der Isegrim, so heißt der Wolf in der Fabel, schon jemals eine Heidschnucke in unseren Breiten gerissen hat. Schäfer Jörk Hehmsoth hat bereits vor Jahren, aus Angst vor wildernden Hunden, erheblich „aufgerüstet“. „Schutzzäune müssen eigentlich eine Mindesthöhe von 90 Zentimetern haben. Ich bin damals aber schon gleich auf 1,06 Meter gegangen“, erläutert der Nindorfer. Die Goldenstedter Wölfin sei schließlich selbst über einen 1,40 Meter hohen Zaun leicht und locker drüber weg gesprungen. Hehmsoth „befeuert“ seine Elektrozäune maximal mit 11 000 Volt. Die vorgeschriebene Mindestspannung würde 4000 Volt betragen. „Die Leute werfen immer schnell mit Voltzahlen durch die Gegend“, findet Faß, der gerade an einem Buch zum Thema Herdenschutz arbeitet. Dieser Bereich sei unglaublich „komplex“, lasse sich nicht so einfach pauschalisieren, findet er. „Was für Schafhalter gilt, gilt nicht automatisch auch für Rinder-, Pferde- oder Gatterwildhalter.“

Bei Jörk Hehmsoth, der auch im Vorstand des Verbands Lüneburger Heidschnuckenzüchter, kurz VLH, sitzt, ist noch bis Ende März Ablammzeit. Jährlich hat er im Schnitt 650 Lämmer. Wie lange tragen die Vierbeiner, die mit den Haaren eines Mufflons und der Unterwolle eines domestizierten Schafes ausgestattet sind, eigentlich? „Fünf Monate“, sagt Hehmsoth und weist in diesem Zusammenhang auf ein besonderes Phänomen hin: Analog zur Eiruhe beim Reh könne auch die Heidschnucke witterungsbedingt die Entwicklung ihres Nachwuchses verzögern. Und zwar für insgesamt einen halben Monat. Heißt: Das Lämmchen erblickt erst dann das Licht der Welt, wenn es draußen wieder wärmer ist. Stichwort Nachwuchs: Die „marschfähigen, leicht futtrigen“ Schnucken, wie Hehmsoth sagt, würden lediglich einem Lamm das Leben schenken. „Hängt damit zusammen, dass die Heidjer auf ihren kargen Böden früher nur eins groß bekommen haben.“

Mit selbst gemachtem Heu, Kartoffeln, Pastinaken, Roter Beete und Topinambur füttert der Schäfer seine 1200 Schnucken in der Winterzeit. Ab Mitte April zieht er mit seinen Herden dann wieder über die Deiche in den Landkreisen Verden und Rotenburg. Da sich die Schnuckenwolle nur schwerlich spinnen lasse, werde sie nur in geringem Maße nachgefragt. Auch die Milchleistung einer Heidschnucke sei vergleichsweise gering. Sein Lammfleisch vermarktet der Nindorfer in der Region.

Noch schweigen Hehmsoths Schnucken. Sollte sich doch einmal der Isegrim nach Nindorf verirren und Jörk Hehmsoths Tiere reißen, müsste der Schäfer den entstandenen „Schaden“ von den 15 000 Euro bezahlen, die er jeweils – verteilt auf drei Steuerjahre – vom Land Niedersachsen erhält. „Davon muss ich aber auch meine Schutzzäune finanzieren“, erläutert er. Würde der Schaden nach einem möglichen Wolfsriss höher ausfallen, würde er schlichtweg darauf sitzen bleiben. Seine Schnucken treten die Grasnarbe auf den Deichen fest, fungieren dort als natürliche Rasenmäher. Der 49-Jährige liebt sie über alles. „In der Ablammzeit sitze ich Nächte lang im Stall und sorge dafür, dass jedes einzelne Lamm überlebt. Aber wer hilft mir, wenn ein Tier gerissen am Boden liegt?“, ärgert sich der Nindorfer maßlos darüber, dass die mit einem Sender versehene Goldenstedter Wölfin lediglich gefangen werden soll. Hehmsoth spricht sich ganz klar dafür aus, dass „verhaltensauffällige Tiere der freien Wildbahn entnommen werden dürfen“. Sprich, abgeschossen werden. Das hatte gerade auch der umweltpolitische Sprecher der FDP-Landtagsfraktion und hiesiger MdL Gero Hocker gefordert. „Das Land vertritt in diesem Punkt jedoch eine andere Meinung“, entgegnet Frank Faß. Und Jörk Hehmsoth, einer der letzten verbliebenen Schäfer in der Region betont: „Ein Schäfer kann ohne seine Schafe leben, die Gesellschaft aber nicht.“

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