Verden. Sie zählt zu den bekanntesten Töchtern der Domstadt, aber Verden hat sich lange Zeit schwer mit ihr getan. Vielleicht weil Anita Augspurg ihrer Zeit immer ein bisschen voraus war, weil sie schon früh alle gesellschaftlichen Konventionen über den Haufen warf, einfach keine Lust darauf hatte, sich der traditionellen Frauenrolle zu fügen. Klar, nach langem Tauziehen ist in Verden ein Platz nach der berühmten Frauenrechtlerin und Pazifistin benannt worden, aber eine angemessene Würdigung erhält die 1943 in Zürich gestorbene Anita Augspurg erst jetzt: An diesem Freitag wird in der Allerstadt der erste Anita-Augspurg-Preis verliehen – vergeben von der Internationalen Frauenliga in Zusammenarbeit mit der Stadt Verden. Die Preisverleihung unter dem Titel „Rebellinnen gegen den Krieg“ findet um 18 Uhr im Rathaus Verden statt. Preisträgerin der mit 5700 Euro dotierten Auszeichnung ist in diesem Jahr die syrische Journalistin und Filmemacherin Zaina Erhaim.
Eine Frau, die sich schon lange mit der Biografie von Anita Augspurg beschäftigt, ist die Verdenerin Ursula Schramm. „Während meines Studiums an der Universität Bielefeld habe ich zum ersten Mal von ihr gehört. Als wir dann 1994 hierher gezogen sind, war sie quasi die erste Verdenerin, die ich schon kannte“, erzählt die Pädagogin lachend und blättert im dicken Wälzer – ihrer insgesamt 135 Seiten umfassenden Diplom-Arbeit über die gebürtige Verdenerin Anita Augspurg. Darin schildert sie ausführlich ihren Lebensweg, beschreibt den Kampf der höheren Tochter aus Verden für die Gleichberechtigung der Frau und für den Frieden. „Anita Augspurg hat sich schon früh von der herkömmlichen Frauenrolle befreit. Das hat mir einfach imponiert“, begründet Ursula Schramm, warum sie als Wissenschaftlerin so tief in die Vita der 1857 im Verdener Fischerviertel geborenen Frau eingetaucht ist. Lehrerin, Schauspielerin, Fotografin, Juristin, Frauenrechtlerin, Bäuerin, Pazifistin – gemäß den Schilderungen von Ursula Schramm hat Anita Augspurg gleich sieben Leben gelebt, und zwar zu gleichen Teilen auf zwei Jahrhunderte verteilt.
„Sie kam als Nachkömmling zur Welt, ihr Vater war Obergerichtsanwalt in Verden. Später ist die Familie dann an die Grüne Straße gezogen, hat im repräsentativen Gebäude mit der Hausnummer 19 gelebt“, erzählt Ursula Schramm. Nach der Mädchenschule für höhere Töchter habe sie dann eine Ausbildung zur Lehrerin und Turnlehrerin in Berlin absolviert. „Damit sie eine schöne Taille bekommen, durften damals nur höhere Töchter turnen“, weiß die Erziehungswissenschaftlerin Ursula Schramm. „Als Anita Augspurg dann auch noch Schauspielunterricht nahm, unter anderem ein Engagement am Hoftheater Meiningen hatte, war sie endgültig raus aus dem Angebot, war als höhere Tochter einfach nicht mehr zu verheiraten.“ Später arbeitete sie dann als Fotografin, eröffnete gemeinsam mit Sophia Goudstikker das Hof-Atelier Elvira in München. „Dort legte sie endgültig ihre bürgerliche Rolle ab. Sie verpasste sich eine Kurzhaar-Frisur, fuhr mit dem Fahrrad durch den Englischen Garten und verdiente ihr eigenes Geld“, berichtet Ursula Schramm von dem, was für eine Frau zur damaligen Zeit einfach revolutionär war.
Doch Anita Augspurg wäre nicht Anita Augspurg, wenn sie nicht noch eins drauf gesetzt hätte: ein Jura-Studium in der Schweiz. Und wer war früher ihre Kommilitonin? Niemand Geringeres als Rosa Luxemburg. Als Fräulein Doktor Anita Augspurg konnte die gebürtige Verdenerin zu Beginn des 20. Jahrhunderts natürlich viel effektiver für die Gleichberechtigung und das damit verbundene Frauenwahlrecht kämpfen. In Berlin – dem Zentrum der Frauenbewegung – lernte die erste promovierte Juristin im Deutschen Kaiserreich auch ihre Seelenverwandte Lida Heymann kennen. Anita plus Lida gleich Anilid – im Freundeskreis hörten die beiden Lebensmenschen auf genau diesen Namen. 1902 war „die durch und durch politische Anita Augsburg“ – wie Ursula Schramm betont – sogar Mitbegründerin des Deutschen Vereins für Frauenstimmrecht. Als sie dann 1919 zum ersten Mal an die Wahlurne schreiten durfte, verglich Anita Augspurg dieses Gefühl mit einer „aufkommenden Morgenröte“. In der Landwirtschaft und dem von ihnen gemeinsam bewirtschafteten Siglhof haben beide Frauen den Ausgleich zu ihrem harten Kampf für die Gleichberechtigung gefunden. „Im Alter machte die glühende Goethe-Verehrerin Anita Augspurg sogar noch den Führerschein und fuhr mit ihrem alten Opel nach Weimar“, erzählt Ursula Schramm. Als Augspurg und Heymann 1923 von den bayerischen Behörden die Ausweisung Adolf Hitlers forderten, gerieten beide Frauen schnell ins Visier – später auch der Geheimen Staatspolizei (Gestapo). 1933 emigrierten sie nach Zürich, wo die beiden Lebensmenschen bis zu ihrem Tod 1943 in einer bescheidenen Dachwohnung hausten.
Augspurgs langjähriger Wohnort München gedenkt der Kämpferin für das Frauenwahlrecht und eingefleischten Pazifistin bereits seit 1994 mit einem Preis. Außerdem wurde in der bayerischen Landeshauptstadt eine Allee nach Anita Augspurg benannt. 23 Jahre später zieht nun auch ihre Geburtsstadt Verden nach. „Höchste Zeit“, findet Ursula Schramm, regt sogar an, eine Augspurg-Büste vor dem Rathaus aufzustellen.
Nach der Preisverleihung am Freitagabend steht Schauspielerin Birgit Scheibe ab 20 Uhr noch einmal im Verdener Ratsaal in ihrer Paraderolle als Anita Augspurg auf der Bühne. Eintrittskarten für das Theaterstück „Anilid“ sind zum Preis von 12 Euro im Vorverkauf bei der Tourist-Information Verden oder direkt an der Abendkasse erhältlich. Musikalisch untermalt wird es von der Harfenistin Gabriele Zummach. Am folgenden Sonnabend können sich Interessierte dann bei verschiedenen Vorträgen und Diskussionen über die Lage der Frauen in Syrien informieren. Zum krönenden Abschluss flimmert am 23. September ab 20 Uhr der Film „Syria's Rebellious Women“ von Zaina Erhaim im Verdener Lichtspielhaus Cine City über die Leinwand. In arabischer Sprache mit englischen Untertiteln.