Fischerhude. Wer die lichtdurchfluteten Praxisräume von Gisela Lemcke betritt, hat sie sofort im Blick: die Wümmewiesen vor ihren Therapieräumen in Fischerhude. Dazu ein Teich, der sich malerisch in die Umgebung fügt und die Pferde, die seit vielen Jahren einen besonderen Platz im Leben der Sprachheilpädagogin einnehmen. „Und nicht nur in meinem“, verweist die 66-Jährige schmunzelnd auf ihre Arbeit mit Kindern, die oft nicht am Tisch, sondern auf dem Rücken ihrer Pferde beginnt.
Eigentlich habe sie nach ihrem Studium der Ökotrophologie eine Tätigkeit als Gewerbelehrerin angestrebt, verrät Gisela Lemcke. Der Stoff habe sie jedoch nicht so richtig gefangen genommen und über eine Alternative nachdenken lassen. "Irgendwann habe ich mich an die Probleme meines kleinen Bruders erinnert, der trotz vorhandener Intelligenz nicht in der Lage war, im Grundschulalter Lesen und Schreiben zu lernen." Das habe dazu geführt, dass sie den bis dahin beschrittenen Weg verlassen und sich dem Studium der Behindertenpädagogik zugewandt habe. „Ich war seinerzeit dabei, als ein Nachhilfelehrer immer wieder versuchte, ihm einzutrichtern, was er nach einem schweren Unfall gar nicht aufnehmen konnte.“ Lernen und Sprache habe sie daher in den Fokus ihrer künftigen Ausbildung gestellt und dabei schnell gemerkt, dass nur die Ursachenforschung zum Erfolg einer Therapie führen kann.
Lehrauftrag an der Uni Bremen
Parallel zum Betrieb eigener Praxen – ab 1981 in Achim, später auch in Verden und nun ausschließlich in Fischerhude – kam Gisela Lemcke Lehraufträgen an der Bremer Universität nach, an die sie vom damals dort tätigen Professor Gerhard Homburg berufen wurde. Obwohl sie zu dem Zeitpunkt noch gar nicht ganz am Ende ihrer Studien gewesen sei, habe Homburg ihren unkonventionellen Umgang mit sich immer wieder ähnelnden Problematiken gewürdigt und trat dafür ein, dass sie ihr Wissen an andere weitergeben konnte.
„Ich fange in den allermeisten Fällen bei null an“, beschreibt die erfahrene Pädagogin die Begegnung mit ihren jungen Schützlingen, die oft schon eine lange Karriere als Nachhilfeschüler hinter sich haben. „Auch intensive Einzelarbeit bewirkt nichts, wenn man die Ursache der Entwicklungsverzögerung nicht kennt oder sie außer Acht lässt“.
So habe sie ganz bewusst ausgetretene Therapiepfade verlassen und vor jeder Behandlung die Geschichte der ihr anvertrauten Kids erforscht und beleuchtet. „Ich vergleiche die anfangs zu nehmenden Hürden mit einer Verstopfung im Gehirn, die zunächst gelöst werden muss, bevor mit der Vermittlung von Wissen begonnen werden kann“. Das Spiel mit ihren beiden Hunden, zwei sehr entspannten Stubentigern, und nicht zuletzt die beiden Pferde auf der Weide würden in hohem Maße dazu beitragen, ihr einen Blick in die Seelen der Vor- und Grundschüler zu ermöglichen.
„Jedes Kind hat ein Potential, das ich zunächst erkennen muss, um es später weiterentwickeln und darauf aufbauen zu können“, vermittelt die Therapeutin einen Blick in ihre Arbeit. Erst danach beginne die eigentliche Förderung auf Basis zuvor gewonnener Erkenntnisse. „Um die Lernbereitschaft der Mädchen und Jungen in Gang zu setzen, habe ich vielfältiges Material entwickelt. Zum einen weckt es den Spieltrieb, zum anderen regt es zum Denken an und zur Entwicklung eines gewissen Ehrgeizes, der beim Erreichen gesteckter Ziele natürlich hilfreich ist", erklärt Lemcke. Es komme in Einzelfällen auch schon mal vor, dass Kinder aggressiv seien und sich zu Beginn oder auch auf Dauer verweigern würden, beschreibt Gisela Lemcke ihre Erfahrungen und macht gleichzeitig deutlich, dass man niemanden zum Mitmachen zwingen könne. Auch zu Verschleierungstaktiken werde gelegentlich gegriffen, auswendig gelernt, was eigentlich gelesen werden solle.
Fehlende räumliche Wahrnehmung
Als Ursache für teilweise massive Lernstörungen ermittelt die Therapeutin häufig ein nicht Vorhandensein räumlicher Wahrnehmung. „Ein Punkt links oben zum Beispiel kann nicht gesetzt werden, und so manches Kind versucht, von rechts nach links zu lesen.“ Erschwerend käme hinzu, dass sich die Situation sowohl in vielen Elternhäusern als auch in den Schulen seit Jahren grundlegend verändert habe. Zeitmangel der Mütter durch deren Berufstätigkeit und resultierend daraus oftmals eine Verzögerung der kindlichen Entwicklung führten zu einem rapiden Anstieg therapiebedürftiger Grundschüler, dem nur mit viel Zuwendung und besonderen Fördermaßnahmen begegnet werden könne.
Dass Erfolge oft auf sich warten ließen, sei dabei verständlich. „Es braucht lange und ist auch verdammt schwer, den Kleinen zum Beispiel den Unterschied gleich klingender Begriffe zu verdeutlichen." „Ist und isst“, fallen ihr dazu ein sowie „Wal und Wahl“. Vieles ist machbar, weiß Gisela Lemcke aus Erfahrung. Geduld und die intensive Begleitung ihrer Arbeit durch die Eltern seien unerlässlich, führten dann aber fast immer zum Erfolg.