Annelie Schlüter hat ein neues Hobby. Wenn sie nicht gerade arbeitet oder mit ihrem Hund spazieren geht, zieht sich die 45-Jährige in ihr Wohnzimmer zurück, setzt sich an das kleine Tischchen unter der Stehlampe und malt. Nicht auf Papier und nicht auf Leinwand. Annelie Schlüter bemalt Steine – lässt sie zu Mandarinen und Marienkäfern werden oder verziert sie mit bunten Motiven.
„Ich habe mich so gefreut, als ich meinen ersten Stein gefunden hab“, erzählt die 45-Jährige, während ihre Augen zu leuchten beginnen. „Ich hatte mit meinem Hund eine Radtour an der Weser gemacht. Kurz vor dem Ochtum-Sperrwerk leuchtete mir aus dem Gras etwas Pinkfarbenes entgegen“, erinnert sich die Altenescherin. Sie habe eine Vollbremsung gemacht und den farbenfrohen Stein entdeckt.

Der expliziten Aufforderung zum Lächeln bedarf es bei den Findern selten.
Überall lassen sich derzeit bunte Steine finden – im Gras, zwischen tristen, grauen Steinen, unter Bäumen. Sie tauchen überall auf. Es handelt sich um einen Trend, der aus Amerika über den Ozean nach Europa geschwappt ist. „Mit den Steinen möchte man anderen Menschen ein Lächeln ins Gesicht zaubern“, sagt Annelie Schlüter. Bei ihr funktioniert das Prinzip. Die 45-Jährige freut sich über jedes Unikat am Wegesrand.
Die mit Tiergesichtern, Sprüchen oder Blumen fantasievoll verzierten Steine werden versteckt, um gefunden zu werden. Anschließend werden sie wieder ausgewildert. Wer einen Stein findet, soll ihn zusammen mit dem Fundort beispielsweise auf Facebook oder Instagram posten. Das Motto lautet: finden, freuen, posten, behalten oder weiterschicken.
Annelie Schlüter hatte ihr erstes Fundstück sofort in der digitalen Gruppe „Gander Stones“ gezeigt. Denn die Herkunft ist mit dem Hashtag der entsprechenden Gruppe und dem Facebook-Logo auf blauem Grund auf jedem Stein vermerkt. „Die Künstlerin hat sich hoch erfreut bei mir gemeldet“, erinnert sich die Altenescherin. Nach zwei Wochen setzte sie den Stein wieder aus.
80 Steine bemalt
Das war im September. Mittlerweile hat Annelie Schlüter selbst fast 80 Steine bemalt und auf die Reise geschickt – in Lemwerder, Vegesack und Lilienthal. „Ich befinde mich im Malrausch“, sagt die 45-Jährige, die als Kind oder Jugendliche „mit Basteln nie was am Hut gehabt“ hat. Sie glaubt auch nicht, eine große künstlerische Begabung zu haben. Dennoch macht ihr das Bemalen der Steine unglaublich viel Spaß. In jeder freien Minute sitzt sie in ihrem bequemen Lieblingssessel, ein Pappkarton voller Steine zu ihren Füßen und verschiedene Stifte in Griffweite. Die Altenescherin hat die Edenbütteler Teiche mit zahlreichen steinernen Marienkäfern versehen. Und wer meint, dort im Gras oder auf dem Weg eine heruntergefallene Mandarine zu entdecken, könnte auf einen kräftig orange bemalten Stein von Annelie Schlüter gestoßen sein. „Da gehen viele alte Leute spazieren, die sich über die Steine freuen“, ist sich die Hobbykünstlerin sicher.
Dass die älteren Finder vermutlich nicht im sozialen Netzwerk angemeldet sind und die Fundstücke deshalb nicht auf die digitale Reise schicken, kann Annelie Schlüter verkraften. „In erster Linie möchte man Menschen erfreuen.“ Auch sie habe einem Stein schon einen Dauerplatz auf der Fensterbank eingeräumt. „Das ist ein Leuchtturm drauf. Ich liebe Leuchttürme. Das ist mein Glücksstein.“ Der Künstlerin aus Braunschweig hat sie dennoch Bescheid gegeben.
Annelie Schlüter ist mittlerweile in zahlreiche Facebookgruppen eingetreten. So gehört sie den „Stones“ aus Berne, Bremen, Delmenhorst, Ganderkesee und Osterholz an. In der 103 Mitglieder starken Facebookgruppe „Lemwerder Stones“ ist sie zweite Administratorin. Dem Trend folgen nicht nur Frauen. Auch zahlreiche Männer sind in den Gruppen.
Aus virtuellen Gemeinschaften werden mittlerweile gar ganz handfeste Freundschaften. „In Delmenhorst malen die Mitglieder auch mal gemeinsam“, hat Annelie Schlüter beobachtet. „Vielleicht ist das auch eine Option für uns“, überlegt die 45-Jährige. Noch sei die Lemwerderaner Gemeinschaft dafür allerdings zu klein, ist die Administratorin überzeugt.
Die bunten Steine haben Annelie Schlüters Wahrnehmung geschärft. „Früher bin ich gerne planlos durch die Welt gelaufen. Heute nehme ich meine Umgebung ganz anders wahr.“ Dabei hält die Altenescherin nicht nur Ausschau nach bunten Steinen, sondern auch nach schön geformten Naturkieseln. „Viele kaufen ihre Steine im Baumarkt. Ich laufe durch die Gegend und gucke gezielt nach Steinen, die man bemalen und beschriften kann.“ Die Drachenfestwiese an der Weser sei dabei eine wahre Fundgrube.
Jetzt, so kurz vor dem Jahreswechsel, versieht die Hobbykünstlerin ihre Steine mit rosafarbenen Schweineköpfen. „Das werden kleine Glücksbringer für Freunde.“ Acrylstifte in feinen Pink-Nuancen, unter anderem in einer Metallic-Version, und mit unterschiedlicher Minenstärke liegen bereit. Aufkleber und Glitzersteinchen sind tabu. Sie würden sich nach einiger Zeit ablösen und die Umwelt verunreinigen. Einzig eine Schicht Klarlack wird verwendet, um die kleinen Kunstwerke zu versiegeln und sie so vor Umwelteinflüssen zu schützen.
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