Wilhelmshaven. Im Sommer 1917 – man darf die Redewendung mit Blick auf das Folgejahr durchaus wörtlich nehmen – proben deutsche Matrosen den Aufstand. Was in diesem Sommer passiert, wird zur Blaupause für die Revolution im Jahr darauf. Die Marineführung lernt dabei wenig.
Nach drei Jahren Krieg ist die Moral schon im Frühjahr 1917 am Boden. Die einzige nennenswerte Seeschlacht im Skagerak hat im Jahr zuvor keine Wende gebracht. Die Schiffe dümpeln seither weitgehend im Hafen herum. Nachrichten über die bürgerliche Revolution in Russland machen die Runde. Viele sind unzufrieden – auch der Matrose Richard Stumpf. Der Zinngießer aus Nürnberg ist zu Kriegsbeginn mit fliegenden Fahnen zur Truppe geeilt. Nun staunt er in seinem Tagebuch frustriert über den neuen Vorgesetzten: Von dem könne man Kraftausdrücke hören, auf die ein Vollmatrose stolz sein dürfe. „Anlässlich einer Scheinwerferübung hörte ich ihn kreischen: ‚Nach dem Kriege schicke ich die ganze Besatzung zum Hagenbeck in den Affenkäfig‘.“
Wie viele seiner Kameraden ist Stumpf den überkommenen militärischen Drill leid: „Lieber dem Engländer Sklave als wie dem Deutschen Soldat“, notiert er heimlich und denkt bereits über Alternativen zur Herrschaft Wilhelms II. nach: „Mein Ideal ist, dass wir uns den englisch-amerikanischen Regierungsformen (…) nähern.“
Vor allem Langeweile und Hunger zermürben die Truppe. Nach dem letzten „Steckrübenwinter“ mit seinen extremen Versorgungsengpässen im gesamten Reich hat sich die Lage an Bord der deutschen Kriegsflotte nicht wesentlich gebessert. Am 6. Juni 1917 verweigert ein Teil der Heizer und Matrosen auf der „Prinzregent Luitpold“ deshalb den Dienst. Nicht nur die Rationen sind klein und schlecht. Auch Gerüchte über Verschiebungen von Proviant machen die Runde. Staatssekretär Eduard von Capelle, ein altgedienter Soldat zuletzt im Rang eines Admirals, ahnt, dass sich da etwas zusammenbraut. Aus dem Reichsmarineamt kommt deshalb die Erlaubnis, Menagekommissionen zu wählen. Die sollen Streitfälle und Ungenauigkeiten bei der Bordverpflegung klären. Angestauter Frust soll sich so entladen und das Vertrauen in die Offiziere wieder wachsen.
In Kiel und Wilhelmshaven wird die Verfügung zur legalen Grundlage für die Selbstorganisation der Mannschaften. Richard Stumpf sieht es mit Wohlwollen: „Die neu ins Leben gerufene Menageprüfungskommission entwickelt eine höchst erfolgreiche energische Tätigkeit und rückt dem Leitenden Offizier täglich aufs Dach“, notiert er. Um ein Drittel Proviant sei man betrogen worden. Inzwischen gebe es „öfters Zulagen“. Auch der 23-jährige Matrose Max Reichpietsch interessiert sich für die neuen Kommissionen. Im Heimaturlaub in Berlin-Neukölln besucht er das Büro der USPD, um sich über den Erlass zu informieren.
Männer gehen von Bord
Am 4. und 5. Juli tritt er auf seinem Linienschiff „Friedrich der Große“ mit einem Teil der Besatzung aus Protest nicht zum Dienst an. Nach weiteren unkoordinierten Aktionen gehen am 2. August 1917 zwischen 400 und 600 Mann (je nach Darstellung) unentschuldigt von Bord des Linienschiffs „Prinzregent Luitpold“. Nachdem sie das Schiff verlassen und das verschlossene Tor der Reichsmarinewerft gewaltsam aufgebrochen haben, marschieren die Männer unter Führung des 25 Jahre alten Oberheizers Albin Köbis in Richtung Norden zum nächsten Ort Rüstersiel. Der Pankower hat sich schon 1912 freiwillig zur Marine gemeldet, ist unter Einfluss der USPD jedoch zum scharfen Kritiker ihrer Führung geworden. Auf seinem Schiff hat die Mannschaft ihn inzwischen zum Wortführer der Menagekommission gewählt.
In Rüstersiel werden die Aufständischen von einem Sturzregen überrascht. Weglaufen wollen sie nicht und nass werden auch nicht. So kehren sie ziemlich bürgerlich im „Weißen Schwan“ ein. „Während ich mit einer Anzahl Matrosen unser Verhalten nach der Rückkehr an Bord besprach, bestieg Köbis die Bühne (…) ‚Wir wehren uns, weil man uns bedrückt!’ war der Sinn seiner Rede. Unter großem Beifall schloss er mit den Worten: ,Nie wieder Krieg’“, berichtet später der Heizer Hans Beckers. Die Staatsmacht in Gestalt des örtlichen Marinewachtmeisters und einiger Helfer kann der Masse wenig entgegensetzen. Freiwillig machen sich die Ausreißer am Abend aber auf den Rückweg zum Hafen.
Die Marineführung verlegt die Schiffe daraufhin aus dem Hafen auf die Reede vor Schillighörn am Ausgang des Jadebusens. Am nächsten Morgen lassen sich einige Anführer dort ohne Widerstand abholen. Sie ahnen nicht, was sie erwartet: Ein Kriegsgericht verurteilt bereits am 25. und 26. August die Oberheizer Albin Köbis und Wilhelm Weber, die Heizer Hans Beckers und Willy Sachse und den Matrosen Max Reichpietsch wegen „vollendeten Aufstandes im Kriege“ zum Tod.
In dem Schauprozess haben die Angeklagten von Anfang an keine Chance. Die Marineführung will Köpfe rollen sehen. Dabei gibt es durchaus mahnende Stimmen. Vor allem Köbis’ Verteidiger Dr. Arkenau schreibt – obgleich selbst Offizier – in seinem Plädoyer den Vorgesetzten an Bord einen Teil der Schuld an den Vorfällen zu. Selbst ein internes Rechtsgutachten für das Reichsmarineamt erklärt, der Tatbestand des „vollendeten Aufstandes“ sei kaum zu konstruieren. Umso schneller wird nun gehandelt. Der Chef der Hochseestreitkräfte, Admiral Reinhard Scheer, bestätigt die drakonischen Urteile trotz erheblicher Einwände seines Rechtsberaters. Bewusst hält er den Reichstag im Unklaren und verstößt damit gegen geltendes Recht. Nur zehn Tage später werden die Urteile gegen Reichpietsch und Köbis vollstreckt. Ganz wohl ist Scheer und Capelle bei der Sache indessen nicht: Vor einer öffentlichen Exekution in Wilhelmshaven scheuen sie zurück. So werden die Delinquenten in aller Stille und früh am Morgen auf dem abgelegenen Schießplatz in der Wahner Heide erschossen. Weber, Sachse und Beckers werden später von der Flottenführung begnadigt.
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