Die Genossen aus der Hansestadt sind plötzlich sehr begehrt. „Vor ein paar Tagen hatten wir Besuch aus Bremen“, berichtet Niedersachsens neue Linken-Chefin Heidi Reichinnek. Christoph Spehr war da, Vorstandsmitglied der Bremer Linken, der den Koalitionsvertrag für das erste rot-grün-rote Bündnis in einem westdeutschen Bundesland maßgeblich mit ausverhandelt hat. Von Bremen lernen heißt also siegen lernen? Nachhilfe in Sachen Stimmengewinne und Regierungsbeteiligung für die ziemlich in der Versenkung verschwundenen Niedersachsen-Linken? So weit will Heidi Reichinnek dann aber doch nicht gehen. „Da haben wir hier eher ein gespaltenes Verhältnis“, sagt die Osnabrücker Ratsfrau mit einem vieldeutigen Lächeln.
„Natürlich sind Wahlerfolg und Koalition in Bremen für viele unserer Genossen eine starke Motivation“, betont die 31-jährige Nahost-Wissenschaftlerin, die im Osnabrücker Nachbarort Belm für ein Jugendprojekt gegen Radikalisierung arbeitet. Aber diese freudigen Ereignisse ließen sich nicht auf Niedersachsen übertragen. Schon gar nicht auf ein Bündnis mit den hiesigen Sozialdemokraten und Grünen. „Das sehen wir für 2022 noch lange nicht“, meint Reichinnek mit Blick auf die nächste Landtagswahl. „Wir sind bereit, Verantwortung zu übernehmen, aber nicht zu jedem Preis.“ Nur Regieren um des Regierens Willen komme nicht in Betracht.
Den Niedersachsen-Linken ist vor allem die Schuldenbremse ein Dorn im Auge. Dass ihre Bremer Genossen sich im Koalitionsvertrag dazu bekannt haben, sorgt bei den Nachbarn für Verdruss und Skepsis. „Wir sehen es als schwierig an, so einen Politikwechsel durchzusetzen“, heißt es in einem Beschluss, den der Landesvorstand nach dem Gastauftritt Spehrs verfasst hat. Darin gratulieren die Linken ihren Bremer Parteifreunden, rammen aber gleichzeitig Pflöcke für ihr eigenes Land ein: „Eine Mitte-Links-Koalition in Niedersachsen wird in der Zukunft für uns nur dann zu einer Option, wenn SPD und Grüne sich von ihrer neoliberalen Politik abwenden.“
Dazu allerdings müssten es die Linken mit ihren derzeit 3100 Mitgliedern erst einmal wieder in den Landtag schaffen. Gute Ergebnisse in den Großstädten reichten dafür allein nicht, warnt der niedersächsische Bundestagsabgeordnete Diether Dehm vor allzu viel Euphorie. „Auf dem Land, da hakt es. Schon Bremerhaven ist nicht Bremen.“ Niedersachsen sei ein konservatives Flächenland, weiß auch Reichinnek. „Es wird nicht leicht, im ländlichen Raum Fuß zu fassen.“ Und selbst wenn es mit dem Einzug ins Leineschloss klappen sollte, wäre Rot-Grün-Rot angesichts der erheblichen Vorbehalte des amtierenden Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD) keine automatische Option. „Diese Frage stellt sich nicht“, wischt der Regierungschef solche Gedankenspiele kategorisch beiseite. Umgekehrt ist es allerdings mit der Liebe auch nicht weit her. „Die sind ja in ihrer Großen Koalition ganz zufrieden“, wirft Reichinnek der Weil-SPD ein Vernachlässigen sozialdemokratischer Belange bei den Themen Pflege, Schulpolitik, Nahverkehr und VW vor.
Vorsitzende kamen und gingen wieder schnell
Im Herbst 2017 waren die Linken bei der vorgezogenen Neuwahl mit 4,6 Prozent knapp gescheitert. Ihre Hochzeit erlebten sie 2008, als sie dank 7,1 Prozent mit zunächst elf Parlamentariern in den Landtag eingerückt waren. Doch dort gab es bald Ärger, als ihre Abgeordnete Christel Wegner den DDR-Mauerbau verteidigte und die Fraktion verlassen musste. Als dritte Oppositionskraft hinter SPD und Grünen unter der CDU/FDP-Regierung hatten es die Linken nicht leicht, Profil zu gewinnen. Magere 3,1 Prozent bei der Wahl 2013 und der Rauswurf aus dem Landtag waren die Quittung. In der Folge fetzte sich das Führungspersonal; neue Vorsitzende kamen und gingen wieder schnell.
„Die Linke lag brach“, bekennt die amtierende Chefin offen. In einer Doppelspitze mit dem Kaufmann Lars Leopold aus dem Landkreis Hildesheim führt Reichinnek seit März 2019 die Partei. Die alten Grabenkämpfe sieht sie inzwischen als überwunden an, viele Neueintritte junger Menschen erzeugten eine Frischekur. „Wir haben tolle Ideen, nur müssen das die Leute endlich auch wieder mitkriegen.“ Ein neuerdings hauptamtlicher Geschäftsführer und eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit sollen die Positionen der Partei draußen wieder sichtbar machen.
Die Linken lehnen die umstrittene Pflegekammer ab, sehen sich im Gegensatz zu den Grünen als wahre Vorkämpfer gegen das neue Polizeigesetz der rot-schwarzen Landesregierung und wollen nach der Sommerpause mit einer Wohn- und Mietenkampagne außerparlamentarisch Druck erzeugen. Als Land könne man sehr wohl wirksam etwas gegen Zweckentfremdung von Wohnraum und Mietwucher unternehmen, erklärt Reichinnek. „Und ja, natürlich müssen wir auch über Enteignung von großen Wohnungskonzernen reden.“
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