Was Chile von diesem Montag an in der Hand hat, ist eine historische Gelegenheit: die Chance, das südamerikanische Land zu einen, das Erbe der Pinochet-Diktatur endgültig hinter sich zu lassen und den wirklichen Übergang zu einem demokratischen Gemeinwesen einzuleiten. Chile – so viel ist schon vor der offiziellen Bekanntgabe der Ergebnisse klar – wird für den Abschied von einem neoliberalen und höchst ungerechten Sozial- und Wirtschaftsmodell stimmen, das von den Juristen des Diktators Augusto Pinochet (1973 bis 1990) festgeschrieben wurde. Wie viele Chilenen am Ende für den „Apruebo“, also für ein neues Grundgesetz stimmen, entscheidet am Ende darüber, wie sehr sich die politische Klasse bei der Ausgestaltung der verfassunggebenden Versammlung bewegen muss.
Alles begann vor gut einem Jahr. Am 18. Oktober 2019 löste eine Preiserhöhung von 800 auf 830 Pesos, umgerechnet drei Eurocent, für ein U-Bahn-Ticket Zorn auf Regierung und Gesellschaftsmodell aus und stürzte das Land in eine soziale und letztlich auch eine Identitätskrise. Dabei galt Chile viele Jahre als stabiles Erfolgsmodell in Lateinamerika.
Kaum jemand sah, dass der Aufstieg auf einer Lehre basierte, die niedrige Löhne, hohe Lebenshaltungskosten, ein gewinnorientiertes Bildungs- und Gesundheitssystem sowie privatisierte Pensionskassen bedeutet und ein Modell implementierte, das viele Menschen an den Rand des Ruins bringt. Ein Modell, das in der Verfassung von 1980 verankert wurde.
Chile war Versuchslabor der Chicago-Boys um den Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman. Er verwandelte den Staat in ein neoliberales Paradies, in dem die Privatwirtschaft alle Rechte, aber kaum Pflichten hat, Ressourcen nach Belieben ausbeuten darf und in dem sogar das Wasser privatisiert ist. Ein System, das den Starken viele Freiheiten einräumt, aber den Schwachen keine grundlegenden Rechte garantiert. Die aktuelle Verfassung ist ein Lehrbuch für soziale Ungleichheit.
Das Schicksal in die eigene Hand genommen
Doch damit ist jetzt Schluss. Die Chilenen haben trotz Pandemie und trotz eines ignoranten Staatschefs und eines repressiven Sicherheitsapparats für diesen historischen Moment gekämpft, haben ihr Schicksal in die eigene Hand genommen und den Politikern, denen sie nicht mehr trauen, die Gestaltungsmacht entrissen.
Aber der 25. Oktober kann nur der Anfang der Entwicklung und nicht ihr Ende sein. Jetzt stellen sich weitere Fragen, müssen weitere Rechte erkämpft werden. Wer darf an der neuen Verfassung mitschreiben? Wie sehr ist die Zivilgesellschaft repräsentiert? Wie sehr die 1,5 Millionen Mapuche-Ureinwohner, die ein Zehntel der Bevölkerung ausmachen und seit Jahrhunderten entrechtet sind und verfolgt werden? Bisher weigert sich die Politik, den Ureinwohnern gesicherte Plätze in der verfassunggebenden Versammlung zuzugestehen.
Die Chilenen werden den Druck auf System und Politiker aufrechterhalten müssen. „Dieses Referendum haben die Menschen auf der Straße errungen“, ist ein Satz, den man in diesen Tagen in Chile überall und immer hört. „Dieser Prozess muss auch auf der Straße weitergeführt werden.“ Wenn diese soziale Revolution etwas ausgezeichnet hat im vergangenen Jahr, dann war es die Abwesenheit jeder politischen Partei. Sogenannte Volksvertreter, rechts wie links, sind in dem südamerikanischen Land zu Recht diskreditiert. Die Rechte, weil sie sich es in dem aus der Gewaltherrschaft geerbten Modell bequem gemacht hat. Und die Linke, weil sie nicht willens oder in der Lage war, es abzuschaffen. Das hat nun die Bevölkerung übernommen.
Weitreichende Folgen
Chile und seine Veränderungen sind erneut ein Versuchslabor. Der Fortgang der Entwicklung könnte in Lateinamerika weitreichende Folgen haben. Bisher haben die Regierenden von rechts bis links die politischen Prozesse immer gekapert. Und selbst die angeblich so volksnahen Regierungen in Venezuela, Nicaragua, Bolivien oder Kuba haben die Bevölkerung nicht wirklich an den Willensbildungsprozessen beteiligt.
In Chile schlägt die Stunde des Volkes. Das klingt pathetisch. Aber es ist kaum weniger als das. Die Menschen haben das erkannt. Sie sind die Herren (und vor allem Damen) des Prozesses. Und sie sind nicht bereit, sich das Heft des Handelns wieder aus der Hand nehmen zu lassen. Unter keinen Umständen.