Ja, er kann – reden. Die Menschheit wolle er als Familie begreifen, über Religionen und Staaten hinausdenken, der Logik der Furcht entkommen, sagt US-Präsident Barack Obama in Hiroshima. Und dann, allen Ernstes, die furchtbare Geschichte der Stadt stehe „für den Beginn unseres eigenen moralischen Erwachens“. Bikini-Atoll? Kuba-Krise? Ein jahrzehntelanger Rüstungswettlauf mit Arsenalen, die den Planeten x-fach hätten pulverisieren können – äußerst merkwürdige Symptome moralischer Erweckung.
Und Obama steht – Friedensnobelpreis hin oder her – genau in dieser Tradition. In seiner Amtszeit exerzieren die Verteidigungsminister Hagel und Carter ein milliardenschweres Modernisierungsprogramm für die US-Nuklearstreitkräfte. Mit kühler Realpolitik lässt sich das auch begründen: Die alten und neuen Gegner im globalen Machtgerangel sind die Atommächte Russland und China; hinzu kommen wenig vertrauenswürdige Kandidaten wie Indien, Pakistan, Iran und Nordkorea. Da ist es schon opportun, den größten Knüppel im Sack zu haben – nur sollte man nicht ausgerechnet vor jenen, die diesen Knüppel schon brutal gespürt haben, von Moral reden.
Jedes Mal, wenn Obama moralisiert, sehnt man sich nach Henry Kissinger. Der würde mit tiefem Bass erläutern, warum man als Supermacht am glaubwürdigsten bleibt, wenn man sich zu seinen Interessen bekennt. Genau dies ist auch für Obamas Gastgeber viel wichtiger als ein symbolischer Besuch an historisch belasteter Stelle: Shinzo Abe braucht gegen Chinas Begehrlichkeiten Geleitschutz im Pazifik, keine pazifistische Geste. Bericht Seite 4
joerg-helge.wagner@weser-kurier.de
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