Es sollte am Donnerstag immerhin eine gute Nachricht geben im britischen Parlament. Urlaub. Bei der Verkündung, dass die Abgeordneten eine zwölftägige Pause bekommen würden, hallten Beifallsrufe durch das Unterhaus. Sie klangen nach echter Erleichterung. Diejenige, die sich aber am meisten nach einer Auszeit sehnen dürfte, heißt Theresa May. Die Premierministerin musste am Donnerstag abermals den Parlamentariern Rede und Antwort stehen, nachdem sie sich in der Nacht zuvor beim EU-Sondergipfel mit den übrigen 27 Mitgliedstaaten auf eine Verschiebung des Brexit-Termins um ein halbes Jahr geeinigt hatte.
Über die Länge des Aufschubs war auf dem Gipfel heftig gestritten worden. Der französische Präsident Emmanuel Macron wandte sich gegen den Wunsch Merkels und anderer Länder, Großbritannien deutlich länger Zeit zu geben. Dies stieß auf Kritik: Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), schrieb im Kurznachrichtendienst Twitter: „Macron hat seinen eigenen Wahlkampf und Interessen wichtiger genommen als die europäische Einheit.“
Bundeskanzlerin Angela Merkel begrüßte hingegen die Einigung in Brüssel, mit der der für Freitag befürchtete Chaos-Brexit noch einmal abgewendet wurde. Es sei „ein sehr intensiver, sehr guter Abend“ gewesen, der die Einigkeit der EU gezeigt habe, betonte Merkel.
Ein halbes Jahr mehr Zeit
Das Königreich erhält für den Austritt aus der Staatengemeinschaft ein halbes Jahr mehr Zeit. Dass das Datum ausgerechnet auf den 31. Oktober fällt, empfanden derweil viele Beobachter als passendes Bild. „Mays Halloween-Horror“, titelte etwa die Boulevardzeitung „Daily Mail“ und verwies wie beinahe alle Medien auf den Volksbrauch am Abend des 31. Oktober. Wieder einmal stand May im Fokus der Entrüstung. Von allen Seiten hagelte es Kritik auf die Regierungschefin für ihre Entscheidung, den Brexit hinauszuzögern. Sie sei sich wohl bewusst, dass das ganze Land von der Verzögerung „frustriert“ sei und dass die Abgeordneten dadurch unter „immensen Druck“ gesetzt würden, verteidigte sich May.
Forderungen nach einem erneuten Referendum erteilte sie jedoch abermals eine Absage. „Ich glaube daran, dass wir die Europäische Union sobald wie möglich mit einem Deal verlassen.“ Doch wie sie das Königreich aus der Sackgasse manövrieren will, bleibt weiter unklar.
Das zwischen Brüssel und London ausgehandelte Austrittsabkommen ist drei Mal durch das Parlament gefallen. Der ursprünglich für den 29. März geplante EU-Austritt des Vereinigten Königreichs war bereits einmal auf den 12. April verschoben worden. Da das Unterhaus den Austrittsvertrag noch nicht gebilligt hat, drohte am Freitag ein ungeregelter Brexit ohne Vertrag mit unabsehbaren Folgen für die Wirtschaft und andere Lebensbereiche. EU-Ratschef Donald Tusk und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zeigten sich zufrieden, dass dies verhindert wurde. Damit bekomme Großbritannien noch einmal rund sechs Monate, um eine gute Lösung zu finden, sagte Tusk. „In dieser Zeit wird der Ablauf komplett in den Händen des Vereinigten Königreichs liegen.“ Die neu gewonnene Zeit solle jedoch nicht verschwendet werden.
Bislang kein Kompromiss in Sicht
Doch auch wenn die konservative Regierungschefin derzeit Gespräche mit der Spitze der Labour-Partei führt, zeichnet sich bislang kein Kompromiss ab. Mehr noch, Oppositionschef Jeremy Corbyn kritisierte May scharf. Der Aufschub des Scheidungstermins sei „ein diplomatischer Fehler“ und ein „Meilenstein des falschen Handelns der Regierung im ganzen Brexit-Prozess“. Corbyn fordert seit Monaten Neuwahlen.
Die schwersten Angriffe aber kamen aus den eigenen Tory-Reihen. Die ohnehin angeschlagene Premierministerin steht nach der Verzögerung unter massivem Druck der radikalen Europaskeptiker, die ihren Rücktritt fordern und hinter sowie mittlerweile auch vor den Kulissen über Nachfolger diskutieren. Ex-Brexit-Minister David Davis warnte, die Rufe nach Mays Ende in der Downing Street würden nun „dramatisch“ zunehmen. Davis war aus Protest gegen Mays Kurs beim EU-Austritt von seinem Amt zurückgetreten. Die Hardliner bezeichnen den Aufschub des Brexit-Termins regelmäßig als „Verrat“. So verurteilte etwa Brexit-Hardliner Bill Cash im Unterhaus Mays „unterwürfige Kapitulation“ in Brüssel und fragte ganz offen: „Werden Sie zurücktreten?“
Die Regierungschefin versuchte, die Attacken aus der eigenen Partei wegzulächeln und wandte sich vielmehr an die Labour-Abgeordneten auf der anderen Seite des Parlaments. Mit deren Hilfe will sie den Deal doch noch gebilligt bekommen. „Lasst uns die Sitzungspause nutzen, um über jene Entscheidungen nachzudenken, die wir schnell nach unserer Rückkehr nach Ostern machen müssen“, rief sie die Abgeordneten auf. Sollte das britische Parlament dem Austrittsvertrag noch vor dem
22. Mai zustimmen, könnte das Land nicht nur schon früher die Europäische Union verlassen, sondern vor allem eine Teilnahme an den Wahlen zum EU-Parlament vermeiden, die am 23. Mai beginnen.