Der Hermannplatz, sagt Taman Noor, „ist für uns ein idealer Ort.“ Er ist nicht nur der pulsierendste Verkehrsknotenpunkt des Bezirks Neuköllns, sondern auch der zentrale Treffpunkt für viele Menschen. Wenn der Gesundheitsmittler und sein interkulturelles Aufklärungsteam, kurz Ikat, zur „hausärztlichen Beratung“ in einen Anhänger ruft, dauert es nicht lange, bis sich eine kleine Traube gebildet hat. Rasch werden die Interessierten von der bunten Truppe vorsortiert. „Da reicht oft schon ein Augenkontakt“, sagt Teamleiter Noor, um zu wissen, wer woher kommt. Vor allem gehe es um Sprache, um das Erkennen, wie gut oder schlecht die jeweiligen Deutschkenntnisse sind. „Können wir sie allein in den Wagen schicken oder brauchen sie sprachmittelnde Begleitung?“
Die insgesamt sechs Frauen und Männer sprechen neben Deutsch jeweils einige der für den Bezirk wichtigen Sprachen: Türkisch, Arabisch, Polnisch, Rumänisch, Persisch, Russisch, Kreolisch, Aserbaidschanisch, African-English, Italienisch, Französisch und Englisch. Zumeist geht ein Team-Mitglied mit zu dem Arzt des Gesundheitsamtes, wenn der über Corona-Prävention oder Infektionsbestimmungen informiert, Abstriche vornimmt oder einfach nur Fragen zur Pandemie beantwortet. Entsprungen ist die Idee der Gesundheitsmittler im vergangenen Jahr während der ersten Welle, als die Inzidenzen in Neukölln rapide in die Höhe schossen. „Wir mussten etwas unternehmen, wir mussten in die jeweiligen Communities gehen. Denn viele Leute wussten oder verstanden nicht, was Corona bedeutet oder unterschätzten das Virus“, erzählt der Mann, der im Alter von vier Jahren aus Afghanistan kam und in Bremerhaven aufwuchs.Als das Ikat-Team mit der Aufklärungsarbeit im Herbst begann, suchten die Mitarbeiter ihre jeweilige Klientel noch in Familienzentren, Kulturvereinen, Moscheen und Kirchen, Cafés und Restaurants. „Das geht seit dem Lockdown leider nicht mehr. Die Kontaktaufnahme ist schwieriger geworden." Der Beratungsanhänger auf Plätzen und an Wochenmärkten sei jetzt zum „größten Baustein für unsere Arbeit“ geworden. Die aktuellen Corona-Regelungen übersetzen sie in die verschiedenen Sprachen als elektronische Newsletter, die dann über Smartphones abgerufen werden können. Der norddeutsche Afghane, wie sich Noor selbst bezeichnet, hat später 14 Jahre in Bremen gelebt, wo er auch studiert hat, bevor er nach Berlin zog. „Der Kiez hier, aber auch Teile von Wedding und Kreuzberg erinnern mich von den sozialen Verhältnissen her stark an meine Jugendzeit in Bremerhaven.“ Auch hier gebe es viel sichtbare Armut, aber ein Smartphone hätten gleichwohl die meisten.
Modellprojekt ist einzigartig und wird vom Bezirksamt gefördert
Inzwischen aktualisieren die Ikat-Leute ihre Newsletter beinahe jede Woche. „Wir müssen aufpassen, dass wir bei den ständigen Änderungen nicht hinterher hinken“, sagt Noor, der auch dem Pandemie-Stab des Gesundheitsamtes angehört. „Die Resonanz ist wirklich gut. Wir treffen auf viele offene Ohren. Aber klar, es muss noch viel mehr gemacht werden.“ Das einzigartige Modellprojekt wird vom Bezirksamt gefördert. Ist der Hermannplatz die Herzkammer Neuköllns, so ist die an dem Platz beginnende, rund drei Kilometer lange Karl-Marx-Straße die Hauptschlagader des Bezirks - aktuell leben hier 329.917 Menschen. Davon haben 153.151 einen Migrationshintergrund; sie oder ihre Vorfahren stammen aus einem von 155 Ländern. Die ungeheure Vielfalt spiegelt sich auch in den Geschäften, Cafés, Bars, Imbissbuden, die sich hier dicht an dicht reihen, wobei derzeit gerade einmal gut die Hälfte der Läden geöffnet hat.
Vor manchen Schaufenstern stehen Männergrüppchen dicht beisammen, viele von ihnen ohne hier vorgeschriebener Maske. Im Rathaus, auf halber Strecke Richtung Süden, scheinen noch mehr Türen verschlossen zu sein. Auch die Vorzimmer von Bürgermeister Martin Hikel (SPD) sind verwaist. Nur Jacqueline Behrens, die Chefin vom Dienst, beantwortet gerade schriftliche Presseanfragen. „Wir arbeiten hier in maximal halber Besetzung, alle anderen sind im Homeoffice.“ Neukölln habe besonders viele kleine Hinterhof- und Sozialwohnungen, in denen zahlreiche Menschen leben. Das wirkt sich während der Pandemie leider negativ aus. Eine Analyse der Berliner Gesundheitsverwaltung während der zweiten Corona-Welle kommt zu dem Schluss, dass generell die Inzidenz in Stadtteilen stieg, die eine ungünstigere Sozialstruktur sowie einen höheren Anteil an Siedlungs- und Verkehrsfläche hatten. In Neukölln leben 7146 Einwohner je Quadratkilometer, im östlich angrenzenden Bezirk Treptow-Köpenick sind es 1625. Während in Berlin die 7-Tage-Inzidenz am vergangenen Freitag auf 89,2 sank, lag sie im Corona-Epizentrum Neukölln bei 125,8. (Die aktuellen Zahlen gelten wegen der vier Ostertage als deutlich geschönt, die Red.) Zwar türmen sich hier auch jenseits der Pandemie viele Probleme. Doch die Rathauschefs von Heinz Buschkowsky (2001-2015) über Franziska Giffey (2015-2018) bis Hikel vereint bei allen Unterschieden nicht nur das SPD-Parteibuch, sondern auch die Bereitschaft, aktiv nach unkonventionellen Lösungen zu suchen.
Der amtierende Bürgermeister schaut kurz aus dem Fenster auf den Vorplatz, wo gerade THW-Mitarbeiter 130.000 kostenfreie FFP2-Masken unter die Leute bringen. Die Schlange derer ist lang, die Berlin-Pass (Hartz-IV-Empfänger), Bafög-Bescheid oder Rentenausweis vorlegen. „Die gehen weg wie warme Semmeln“, heißt es am Stand. Pressesprecherin Behrens verweist auf die jüngste Rathaus-Idee: Aufklärungsvideos in den wichtigsten Fremdsprachen, in denen Hikel auf Deutsch mit Untertiteln mit jeweils „einer Größe im Bezirk aus der jeweiligen Community“ über die Impfangebote informiert. Kazim Erdogan ist dabei auf Türkisch zu hören. Der Psychologe berät nahe der Karl-Marx-Straße vor allem Einwanderer mit seiner Initiative „Aufbruch Neukölln“. Doch derzeit sind nur digitale Treffen möglich und statt Aufbruch stehen eher Verzweiflung, Trauer und Trost im Vordergrund. „Es gab keinerlei Vorbereitung auf häusliche Isolation“, sagt der 67-Jährige. „Immer häufiger brennen die Sicherungen durch. Gewalt spielt - um so länger die Pandemie anhält - eine immer größere Rolle in den Familien. Viele Leute sind einfach fertig, ausgebrannt. Und auch die finanziellen Sorgen werden immer größer.“
Erdogan erinnert daran, dass Einwandererfamilien durchschnittlich größer und kinderreicher seien, zum Teil wohnen mehrere Generationen eng zusammen. „Es ist nicht selten, dass eine Familie mit vier oder fünf Kindern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung lebt.“ Das Coronavirus treffe sozial schlechter gestellte Menschen generell härter – und darunter seien vermehrt Migranten, von denen viele eigentlich ein inniges Verhältnis samt Umarmungen und Küssen pflegen. „Manchmal vergisst man einfach mal für einen Moment Corona – und dann kann es zu spät sein.“ Ansteckungen bei Hochzeitsfeiern, Familienfesten, selbst nach Beerdigungen sind keine Seltenheit. Immer wieder muss die Polizei in Neukölln größere Versammlungen und illegale Partys auflösen. Erdogan erzählt, dass in seinem Umfeld inzwischen mindestens 30 Leute durch das Virus gestorben sind. Er beklagt, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen durch die deutschen Behörden nicht erreicht werden, und es die Gesellschaft nicht geschafft hat, „ein Wir-Gefühl“ zu entwickeln.
Moritz Freiesleben sieht es etwas anders, aus einer anderen Perspektive. Der Arzt und Vater von drei Kita-Kindern beobachtet während der Pandemie eine erstaunliche Solidarität. „Da übersetzen Mütter für andere die Online-Aufgaben. Ohne deren Hilfen könnten viele Schüler sie gar nicht lösen.“ Der Mediziner empfindet den Alltag in Neukölln als extrem – in positiver wie negativer Hinsicht und völlig anders als im Rest der Republik. Freiesleben vermutet, dass die Zeit ohne durchgängigen Kita- und Schulbetrieb tiefe Spuren hinterlassen wird. „Wenn ich auf dem Spielplatz Kinder, nicht nur aus Einwandererfamilien, Deutsch sprechen höre, wird mir angst und bange. Ich weiß nicht, wie und wo sie die Versäumnisse aufholen sollen. Am Ende wird die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinandergehen.“
Während in der Karl-Marx-Straße zahlreiche Geschäfte und Restaurants ums Überleben ringen, andere bereits aufgegeben haben, hat bei Freiesleben um die Ecke gerade ein afrikanischer Imbiss eröffnet. „Eine einmalige Corona-Chance“, habe ihm der Besitzer erzählt, denn die Miete sei so günstig wie seit Jahren nicht. Manchmal hört der Arzt den „Feierabendfunk“ des Neuköllner Gesundheitsamts. In dem Podcast sprechen die Moderatoren Christine und Serkan mit Gästen darüber, was Corona beispielsweise mit Musikern macht. Befragt werden auch Experten wie der grüne Bundestagsabgeordnete Janosch Dahmen, der frühere Oberarzt des Berliner Rettungsdienstes oder der Amtsarzt Nicolai Savaskan. Er hat die Leitung des Neuköllner Gesundheitsamtes im Januar 2020 übernommen und kämpft seitdem mit inzwischen 230 Mitarbeitern gegen die Pandemie. „Ich wünschte mir“, sagte Savaskan kürzlich gegenüber dem „Feierabendfunk“, „das Thema hätte ein Verfallsdatum.“ Die evangelische Kirchengemeinde Rixdorf, am südlichen Ende der Karl-Marx-Straße, die wegen der Inzidenz von mehr als 100 keine Präsenzgottesdienste mehr durchführen darf, hat jetzt an der Magdalenenkirche ein großes Transparent aufhängen lassen: „Hoffnung tut der Seele gut".
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