Seit ihrem furiosen Wahlsieg bei der Bundestagswahl 1998 (40,9 Prozent mit mehr als 20 Millionen Zweitstimmen) haben sich bis zur letzten Bundestagswahl 2017 mehr als 10,6 Millionen Wähler von der SPD abgewendet. Sie hat also innerhalb von nur 20 Jahren mehr als die Hälfte ihrer Wählerschaft bei Bundestagswahlen verloren.
Auch bei der jüngsten Wahl zum Europäischen Parlament haben die Sozialdemokraten im Vergleich zur letzten Wahl 2014 ihre Wählerschaft nahezu halbiert und sind mit 15,8 Prozent nur noch drittstärkste Partei. Im Land Bremen ging die Zustimmung zur SPD von 42,6 Prozent im Jahr 1999 auf 24,9 Prozent bei der jetzigen Wahl zurück.
Die CDU/CSU hat bereits bei der Bundestagswahl 2009 die SPD als stärkste „Arbeiterpartei“ abgelöst. Die SPD verliert zudem immer mehr Arbeiter und Arbeiterinnen an die AfD. So war die AfD bei der letzten Bundestagswahl mit 18 Prozent erstaunlich erfolgreich bei den Arbeitern; die SPD als „klassische“ Arbeiterpartei wählten in diesem Milieu nur 23 Prozent; eine ähnliche Tendenz zeigte sich bei den Arbeitslosen.
Die AfD hängt die SPD in den neuen Bundesländern ab.
In den neuen Bundesländern wurde die AfD unter den Arbeitern mit 26 Prozent und den Arbeitslosen mit 30 Prozent zur stärksten Partei. Sie hat dort die SPD mit 14 Prozent bei den Arbeitern und zwölf Prozent bei den Arbeitslosen deutlich abgehängt. An Bündnis 90/Die Grünen verliert die SPD gleichzeitig die jungen Wähler/innen und die gut situierten Akademiker-/kosmopolitischen Milieus. Und ein erheblicher Teil der Wähler wendet sich durch Wahlabstinenz ab.
Die soziale Ungleichheit geht mit der Repräsentation einer politischen Ungleichheit einher. Diese Repräsentationslücke der Sozialbenachteiligen ist unter anderem auf dem voranschreitenden Bindungsverlust der „großen“ Volksparteien zurückzuführen; hinzukommt nun noch eine Spaltung der Wählerschaft in den Generationen. Die SPD, mit ihrem Selbstverständnis, die Partei der sozial Benachteiligten zu sein, verliert nicht nur habituell und sozialräumlich den Zugang zu ihren ehemaligen Kernwählerschaften, sondern ist gleichzeitig nicht attraktiv für die Generation „Fridays for future“.
Die ehemalige Fortschrittspartei hat kein Narrativ für die Gestaltung der Zukunft! Der Mangel an Sensorik für Stimmungen, analytischer Deutungsfähigkeit und Führungskompetenz führt dazu, dass die SPD sowohl den Protest von rechts als auch gegen die Klimapolitik in seinen soziokulturellen Dimensionen nicht zu erfassen vermag. Quo vadis, SPD? Ein „weiter so“ führt endgültig in die Bedeutungslosigkeit.
Unser Gastautor ist Professor für Sozialwissenschaften an der Hochschule Bremen. Eine Langfassung dieses Kommentars steht in der Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft „Leviathan.“