Bitte mal die Hand heben: Wer verliert schon gerne an Bedeutung? Klar, niemand, da bilden Politiker keine Ausnahme. Schließlich haben sie meist lange ziemlich viel getan, um an Einfluss zu gewinnen. In der Regel haben sie sich hochgearbeitet, Freizeit geopfert, sich reingekniet, hervorgetan und gleichzeitig angepasst, mit den richtigen Leuten umgeben und das Lied der Partei ge-sungen.
Die SPD-Landesvorsitzende und Bürgerschaftsabgeordnete Sascha Aulepp möchte ihre Macht nicht teilen, in ihrer einflussreichen Funktion nicht und nicht als SPD. Das ist nachvollziehbar, als Anspruch in seiner simplen Klarheit aber weithin verpönt. Deshalb hat sie in einem Mitgliederbrief ihre Botschaft sorgsam verpackt: Die Initiative des Vereins „Mehr Demokratie“, die einen Volksentscheid für mehr Wählereinfluss bei den Bürgerschaftswahlen zum Ziel hat, bedient laut Aulepp „sattsam bekannte parteienfeindliche Vorurteile“. Der Vorstoß sei „letztlich, wenn auch sicher ungewollt, Wasser auf die Mühlen der rechtspopulistischen Demokratiefeinde“.
Ein Vorstoß für mehr direkte Demokratie und dann das? In Bremen? Dem Bundesland, das seinen Bürgern nah sein, sie fortwährend anhören und einbinden will? In dem Bremen, in dem die Worte Bürgerbeteiligung und Teilhabe derart Hochkonjunktur haben, dass sie in Behörden für das Verfassen von Senatsvorlagen aller Art auf Speichertaste liegen müssten? Was ist geschehen?
Das: „Mehr Demokratie“ sammelt bis Mitte Oktober Unterschriften, um das Wahlrecht erneut zu ändern, das – jetzt wird es kompliziert – im Februar vom Parlament bereits geändert worden war, weil die Änderung von 2006 der Mehrheit der Abgeordneten zu weit geht. Anlass für die erste Änderung im Jahr 2006 war – überwiegend – nicht Einsicht, sondern Zwang in Form von 70 000 Unterschriften, die „Mehr Demokratie“ zusammengetragen hatte; das Parlament kam mit seiner Entscheidung einem Volksentscheid zuvor. Seit 2011 können die Wähler deshalb fünf Stimmen vergeben, sie häufeln oder mischen und so politische Nobodys in die Bürgerschaft katapultieren.
Die Wähler entscheiden also nicht mehr nur, wie viele Kandidaten auch Abgeordnete werden (was manche Parteien bei der anstehenden Wahl schon beunruhigt), sondern bestimmen auch mit, wer dort sitzt. 2011 und 2015 entschieden sie mehr mit, bei der nächsten Wahl werden sie es weniger können. 2023 vielleicht wieder mehr – sofern „Mehr Demokratie“ genug Unterschriften zusammenbekommt. Davor warnt Sascha Aulepp, nicht von ungefähr sind die eigenen Mitglieder Adressaten: Auch in der SPD war die Änderung der Wahlrechtsänderung umstritten. Die Fraktion stimmte ihr nicht einmal geschlossen zu.
Mehr direkte Demokratie könne unter Umständen der „Bildung einer starken und arbeitsfähigen Bürgerschaftsfraktion“ im Wege stehen, so Aulepp. Denn eine solche Bilderbuch-Fraktion werde durch die von der „Partei beschlossenen Reihung der Kandidaten“ begünstigt. Vornehm ausgedrückt: Nicht jeder gehört ins Parlament. Wer für ein Mandat qualifiziert ist und/oder es sich verdient hat, den hat die Partei mit einem sogenannten aussichtsreichen Listenplatz geadelt. Die anderen können nachrücken oder bestenfalls bei einem sensationellen Wahlergebnis als Hinterbänkler dienen.
Vergabe von Listenplätze erfolgt mit System
Die Kandidaten sind allerdings nicht irgendwer, sie haben ihren Platz nicht gekauft oder gewonnen, sie sind parteiintern handverlesen: Ortsvereine, Stadtbezirksverbände oder die gesamte Partei nominieren sie, eine Wahlkommission oder die Mitgliederversammlung weist ihnen Listenplätze zu. Dabei spielen Herkunft, Wohnort und Geschlecht eine Rolle – den Listen liegt ein kompliziertes System zugrunde, um jede Bevölkerungsgruppe ausreichend zu bedienen. Wenn aber Personenstimmen großes Gewicht haben, geht die Rechnung der Partei nicht auf. Das ist das Dumme an der Demokratie: Die Wähler machen, was sie wollen.
Das ist ihre Aufgabe. Dagegen ist es Aufgabe der Parteien, ein Kandidatenteam zusammenstellen, dessen Mitglieder im Parlament durchweg eine gute Figur machen. Es ihre Aufgabe, diese Auslese zu organisieren und mit diesem Angebot an die Wähler für sich zu werben. Sie müssen für geeigneten Nachwuchs sorgen und darüber diskutieren, wie umfangreich eine Kandidatenliste eigentlich sein muss. Diese Debatte will die SPD-Chefin offenbar nicht führen. Es ist leichter, sich mit „Mehr Demokratie“ anzulegen als mit „Mehr Sozialdemokratie“, sprich: den eigenen Leuten.