Der französische Staatspräsident Macron hat mit seinen Vorschlägen zur Weiterentwicklung der EU vom letzten Jahr große Hoffnungen geweckt. Seine Rede an der Sorbonne erschien wie ein lang erwarteter warmer Platzregen auf ausgedörrtes Land. Doch etliche Monate des Stillstands sind vergangen, auch nach der ebenfalls ambitionierten Rede des EU-Kommissionspräsidenten im September 2017.
Denn Berlin war nicht so weit, sich zu bewegen. Die langwierige Regierungsbildung ließ ganz Europa warten. Doch als erste Aktion der neuen Bundesregierung zur EU-Reform gibt es nun – eine Vertagung. Man werde entgegen der Ankündigungen nun doch im März keine deutsch-französisch abgestimmte Initiative vorlegen, verlautet es aus Berlin.
Das klingt nicht vielversprechend. Die aus Regierungskreisen kolportierte Entschuldigung, man habe nicht genug Zeit gehabt für die Vorbereitung der versprochenen deutsch-französischen Initiative, weil man sondieren und koalieren musste, ist peinlich. Was denn nun? Setzt Berlin weiter auf den europäischen Schlafwagen als schnellsten Weg zur notwendigen Erneuerung der EU?
Vermutlich liegt die Sache etwas anders. Die Verzögerung dürfte ernsten deutsch-französischen Meinungsunterschieden geschuldet sein. Macrons großer europäischer Aufbruch propagierte eine Kerneuropa-Vision, die gegenüber Mittel- und Osteuropa Rücksichtslosigkeit an den Tag legt und letztlich auf den Traum eines deutsch-französischen Kondominiums im Pariser Takt hinausläuft. Das ist nicht im europäischen Interesse und auch nicht im deutschen.
Zu glauben, die Lösung für die EU könnte darin bestehen, einfach mit Frankreich gemeinsam festzulegen, wohin für alle die Reise geht, wäre ein verhängnisvoller Irrtum. Da würden weder der EU-Süden, noch Mittel- und Osteuropa, noch die acht EU-Länder, die vor Kurzem unter der Führung der Niederlande ihre eigenen Zukunftsvorstellungen in Erinnerung riefen, mitmachen.
Platz für stärkere Einbindung anderer Länder
In wichtigen Teilen Europas wird nichts so sehr befürchtet wie ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“, das sich dann de facto als Europa der zwei Klassen erweist, einer „Premium-EU“ und einer „EU-Holzklasse“. Vielleicht ist es ja ganz gut, dass es im März keine deutsch-französischen Vorschläge gibt. Das lässt Platz für eine stärkere Einbindung anderer Länder.
Im Moment stellen sich innerhalb der EU unterschiedliche Lager gegeneinander. Das eine, aus dem Süden, folgt der Fahne der Solidarität, ein zweites aus dem Norden betont die Stabilität, und ein drittes aus dem Osten schwört auf die Parole der Souveränität. Das schreit nach Brückenbau! Wenn wir Europa wirklich wollen, liegt da enorm viel Arbeit vor uns.
Zur Person:
Unser Gastautor Reinhard Bütikofer sitzt seit 2009 für die Grünen im Europäischen Parlament. Zuvor war der 65-Jährige von Dezember 2002 bis November 2008 Bundesvorsitzender der Partei.
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