Grünen-Bundestagsabgeordnete im Interview Kappert-Gonther: „Wir müssen Einsamkeit ernst nehmen“

Infektionsschutz sei sinnvoll, sagt die Grünen-Bundestagsabgeordnete Kirsten Kappert-Gonther. Wichtig sei aber auch die psychische Verfassung der Bürger. Ein Gespräch über Angst, Einsamkeit und Corona-Politik
10.01.2021, 05:00 Uhr
Lesedauer: 5 Min
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Von Anja Maier

Frau Kappert-Gonther, die Hoffnung, dass der Corona-Lockdown endet, ist vorerst perdu. Die Infektionszahlen und leider auch die Todesfälle sind immer noch viel zu hoch. Sie sind Grünen-Bundestagsabgeordnete und Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie – was macht solch eine Vergeblichkeit mit Menschen?

Kirsten Kappert-Gonther: Die Lage ist ja weder aussichtslos, noch sind die Maßnahmen vergeblich. Wir haben jetzt einen Impfstoff, es wurde auch hier in Bremen mit dem Impfen begonnen, und offensichtlich wird der Impfstoff gut vertragen. Wir wissen inzwischen sehr viel mehr über das Virus. Darum ist der weitere Lockdown, den ich für richtig halte, nicht vergeblich, sondern zielführend. Aber ja, wir müssen uns auf eine noch längere Zeit einrichten, in der wir uns nicht körperlich nahe sein können – und das ist tatsächlich schwierig.

Sie sind Obfrau der Grünen im Gesundheitsausschuss. Welche Rolle spielt dort neben der Bekämpfung des Coronavirus die psychische, mentale Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger?

Leider eine zu geringe Rolle. Grundsätzlich werden im politischen Raum die wissenschaftlichen Disziplinen der Psychologie, der Pädagogik, auch der Ethik zu wenig mitgedacht. Es ist notwendig, für den Gesundheitsschutz die Kontaktbeschränkungen einzuhalten. Aber es ist auch notwendig, dass wir berücksichtigen, was das psychisch für Menschen bedeutet.

Das Parlament arbeitet wegen der Pandemie im Dauerstress. Milliarden Euro werden freigegeben, Grundrechte beschnitten, Gesetze umgeschrieben. Es gibt jede Menge Debatten und Streit. Haben Sie im zurückliegenden Jahr zu jeder Zeit gewusst, worüber Sie gerade abstimmen?

Ich habe immer gewusst, worüber ich im Gesundheitsausschuss abstimme. Was in den anderen Ausschüssen für das Parlament entwickelt wurde, da habe ich mich überwiegend auf die Expertise der Kolleginnen und Kollegen verlassen.

... eine normale Praxis.

Genau, es ist bei der Fülle an Gesetzesvorlagen sinnvoll, dass im Bundestag arbeitsteilig gearbeitet wird. Was die Gesetzgebung im Gesundheitsausschuss angeht, da war ich nicht nur immer eingearbeitet, sondern auch direkt an der Erstellung beteiligt. Das hat bedeutet, dass wir Abgeordnete und unsere Mitarbeitenden seit Beginn der Pandemie Anfang 2020 rund um die Uhr gearbeitet haben, auch am Wochenende und in den sitzungsfreien Wochen. Das war natürlich auch belastend, aber notwendig.

Was kann die Politik dafür tun, dass die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben können, dass sich verantwortungsvoll um ihre Geschicke gekümmert wird? Welche Rolle spielt hier Ehrlichkeit?

Ehrlichkeit und Transparenz sind Schwestern. Es ist notwendig, viel zu erläutern und zu kommunizieren, auch wenn es Unsicherheiten gibt, wenn Dinge mal nicht gewusst werden oder Entscheidungen neu getroffen werden müssen.

Es wird gern nach klaren Regeln gerufen und dann wieder die persönliche Freiheit angemahnt. Frei heraus gefragt: Wird in Deutschland zu viel gejammert?

Den Eindruck habe ich nicht. Die ganz überwiegende Mehrheit der Menschen hält die Corona-Maßnahmen für sinnvoll und notwendig, nur eine kleine Anzahl wendet sich vehement dagegen. Was wir grundsätzlich feststellen können: Unsicherheit weckt den Wunsch nach einfachen Lösungen. Das ist ein psychologischer Effekt: Wenn wir ängstlich sind, rufen wir gewissermaßen nach dem starken Elternteil, das uns sagt, wo es langgeht.

Die Kommunikation des Gesundheitsministeriums und der Ministerpräsidenten oszilliert zwischen gutem Zureden und Verboten. Was halten Sie aus psychologischer Sicht für geboten?

Informieren, erklären, erläutern. Menschen müssen wissen, worauf sie sich verlassen können. Ich habe es beispielsweise für unglücklich gehalten, dass wir teilweise in den Ländern einen Flickenteppich an Entscheidungen hatten und dass heute dies und morgen etwas anderes galt. Wir Grüne haben vorgeschlagen, nach bundeseinheitlichen Kriterien vorzugehen – einheitlich, aber nicht immer gleichzeitig, sondern abgestimmt auf die Lage vor Ort.

Eine kommunikative Figur ist der Appell. Jens Spahn spricht von „Corona-Patriotismus“, Peter Altmaier von „patriotischem Konsum“ und Markus Söder vom Lockdown als „patriotischem Akt“. Kann das funktionieren?

Gerade in der globalen Krise sehen wir, dass uns Nationalismen überhaupt nicht weiterhelfen. Diese Pandemie können wir nur gemeinsam überwinden. Deshalb finde ich es richtig, dass wir innerhalb der EU über die Impfstoffverteilung entschieden haben. Wer reich ist, bekommt das meiste – derlei Egoismen sind schädlich.

Viele Menschen sind einsam. Die Erfahrung ist, dass sich der Staat nicht um alle gleich gut kümmern kann. Ist das gefährlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Einsamkeit ist ein sehr unangenehmes Gefühl, das wir gesellschaftlich ernst nehmen müssen. Alleinsein bedeutet nicht immer Einsamkeit, aber grundsätzlich sind wir soziale Wesen, die Sehnsucht haben nach Austausch. Einsamkeit kann körperlich und seelisch krank machen.

Was kann dagegen politisch getan werden?

Die Politik muss das Thema Einsamkeit stärker in den Blick nehmen. Die Situation, dass immer mehr Menschen einsam sind, gab es schon vor der Pandemie, aber jetzt hat sie sich deutlich verstärkt. Kurzfristig müssen wir sicherstellen, dass niemand alleingelassen wird. Wir sollten nicht akzeptieren, wenn Menschen in Kranken- und Pflegeeinrichtungen keinen Besuch bekommen können oder womöglich sogar allein sterben müssen. Das ist ja leider passiert und menschlich schrecklich. Die Politik kann gegensteuern, indem dort zum Beispiel Schnelltests flächendeckend zur Verfügung gestellt werden, um Besuch zu ermöglichen.

Und was ist mit den Menschen, die gesund, aber einsam sind?

Wir müssen das Draußen neu denken. Es hilft manchmal schon, wenn Kommunen mehr Bänke aufstellen, wo Menschen sich treffen, ohne sich verabredet zu haben. Das klingt banal, ist aber wichtig. Langfristig sollten Bereiche gefördert werden, die Begegnungsräume schaffen und so die Einsamkeit unwahrscheinlicher machen, etwa durch eine bessere Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum, mehr Sicherheit für Fußgängerinnen und übrigens auch mehr öffentliche Toiletten, damit auch Ältere sich sicher fühlen können und gern vor die Tür gehen. Projekte für generationsübergreifendes Wohnen, wie sie die Bremer Heimstiftung anbietet, sind toll oder auch die Wohlfühlanrufe der Ambulanten Versorgungsbrücken mit ihrem Sitz in der Humboldtstraße.

Der Kampf gegen Corona ist nervenaufreibend. Bräuchten politische Entscheidungsträger selbst psychologische Beratung? Oder reicht eine gute Kommunikationsagentur?

Diese Entscheidung trifft jeder für sich. Grundsätzlich spricht gar nichts dagegen, dass auch Politikerinnen und Politiker professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Wenn Menschen erkennen, dass sie Hilfe brauchen, ist das gut, wird aber leider manchmal noch stigmatisiert. Dafür gibt es überhaupt keinen Grund. Es ist gut, über Gefühle zu sprechen, auch über negative. Es ist auch wichtig, sich untereinander auszutauschen, auch im politischen Raum. Keine Politikerin und kein Politiker kann immer wissen, wie es jetzt weitergeht.

Wie ist das im Bundestag? Helfen Sie sich da auch mal gegenseitig?

Zu den positiven Erfahrungen in dieser Pandemie gehört der gute, kollegiale Austausch untereinander. Trotz bisweilen unterschiedlicher politischer Positionen habe ich, außer bei der AfD, selten die Absicht erlebt, aus dieser Krise parteipolitischen Profit zu ziehen. Im Gegenteil, gute Ideen konnten sich durchsetzen, so auch von uns Grünen im Gesundheitsausschuss. Das ist ein Umgang miteinander, von dem ich mich freuen würde, wenn er sich fortsetzen ließe.

Aus psychotherapeutischer Sicht: Welche Techniken können uns individuell und als Gesellschaft durch diese Krise tragen?

Miteinander reden hilft. Über Gefühle zu sprechen ist wichtig, auch über negative Gefühle wie Ängste und Einsamkeit. Dabei immer auch den Blick dafür schärfen, was es an Gutem gibt, an Solidarität und Hoffnung. Und: rausgehen, an die Weser, in den Bürgerpark. Einfach mal den Blick schweifen lassen. Das tut uns allen gut.

Info

Zur Person

Kirsten Kappert-Gonther (54) wurde 1966 in Marburg an der Lahn geboren. Von 2011 bis 2017 war sie für die Grünen Mitglied der Bremischen Bürgerschaft. 2017 wurde Kappert-Gonther in den Bundestag gewählt. Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie ist Obfrau im Gesundheitsausschuss.

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