„Unser Name ist ein Hemmnis“
Am heutigen Volkstrauertag gedenkt Deutschland der Toten von Krieg und Gewaltherrschaft. Bei der zentralen Gedenkstunde des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge erinnert dessen Präsident Markus Meckel im Bundestag an den Beginn des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren. Mit ihm sprach Hans-Ulrich Brandt über eine neue Kultur des Gedenkens und Erinnerns.
Herr Meckel, Gedenktagen haftet etwas Rückwärtsgewandtes und Alibihaftes an. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, den Volkstrauertag umzubenennen oder gar abzuschaffen?
Markus Meckel: Dazu gibt es überhaupt keinen Grund. Der Volkstrauertag ist und bleibt ein wichtiger Tag in der Erinnerung an Krieg und Gewalt. Gerade in einer Zeit, in der wir in der Nachbarschaft Europas aber auch in Europa selbst mit Krieg konfrontiert sind, stellt sich die Frage der Erinnerung und des Gedenkens an die Opfer von Krieg und Gewalt ganz aktuell. Aber natürlich müssen wir darauf reagieren, dass die Zahl der Menschen, die Krieg unmittelbar erlebt haben, immer geringer wird. Mein Eindruck ist jedoch, dass die nachfolgenden Generationen an dem Thema wieder ein zunehmendes Interesse haben.
In der Projektarbeit einer Schülerin aus der 11. Klasse habe ich folgende Umfrage gefunden: Von den 30 Schülern ihrer Klasse kannten nur fünf den Volkstrauertag, 21 Schülern bedeutete der Tag nichts, vier zeigten Interesse, sich mit dem Gedenktag zu beschäftigen. Zugegeben, repräsentativ ist das nicht – aber nehmen Sie so etwas ernst?
Ja, durchaus. Wir müssen über die Gestaltung des Volkstrauertages neu nachdenken, das Thema braucht eine intensive öffentliche Bearbeitung. So sollten wir beim Volksbund überlegen, ob wir unseren Namen, der ja gerade für viele jüngere Menschen erst einmal ein Hemmnis ist, nicht noch vor dem 100. Jahrestag des Volksbundes im Jahr 2019 verändern können. Ich hielte es für eine gute Idee, unseren Namen präziser auf die heutige Situation abzustimmen.
Angesichts der vielen Kriege und neuen Spannungen zwischen Ost und West ist ein solcher Gedenktag sicher kein Anachronismus. Aber brauchen wir nicht eine modernere Form der Kultur des Gedenkens, Erinnerns, der Trauer?
Auch darüber denken wir nach. Was viele nicht wissen: Wir arbeiten in jedem Jahr mit etwa 20 000 Jugendlichen zusammen, die zum Teil ganz zufällig auf den Volksbund gestoßen sind. Sie sind sehr von unserer Arbeit angerührt und erkennen die Aktualität dieser Aufgabe durchaus. Und gerade auch bei einer zunehmenden Präsenz von Migranten rückt das Thema Krieg noch näher. Jugendliche merken, dass zu uns nach Deutschland Menschen kommen, die vor dem Krieg geflohen sind.
Viele Menschen denken beim Volkstrauertag an mahnende Gedenkworte von Politikern und Kranzniederlegungen an Kriegsgräberstätten. Könnte der Tag nicht anders gestaltet werden?
Ich hielte es für sinnvoll, wenn wir in den Prozess des Experimentierens kommen. Gerade junge Menschen, die sich für diese Erinnerungsarbeit interessieren, sollten Vorschläge machen. Vieles ist vorstellbar, so könnte das Verhältnis von Krieg und Diktatur zum Thema gemacht werden. Auf jeden Fall scheint mir aber die Aktualisierung dieses Tages in die Gegenwart hinein ein wesentliches Stichwort dafür zu sein, wie wir zukünftig den Volkstrauertag gestalten.
Sie wollen den Volksbund modernisieren. Die Mitgliederzahlen gehen rasant zurück, die Zahl der Spender ebenfalls. Der Verband müsse sich „neu erfinden“ und stärker auf Bildung und internationale Versöhnungsarbeit konzentrieren, fordern Sie. Das klingt dramatisch.
Nein, aber es ist notwendig, auf die Gegenwart zu reagieren, das Alte und Bewährte aber weiter zu tun. Die deutsche Erinnerungspolitik ist allzu sehr gesplittet: Die einen beschäftigen sich mit dem Nationalsozialismus und insbesondere mit dem Holocaust, andere mit der Vertreibung, die nächsten mit der kommunistischen Diktatur. Krieg kommt dabei gar nicht mehr vor, obwohl die allermeisten Familien in unserem Land betroffen sind. Das ist eine Form von Geschichtsvergessenheit, die wir stärker bewusst machen müssen. Wie kann verhindert werden, dass wieder Kriege entstehen? Und wo müssen wir für Recht und Gerechtigkeit eintreten, damit keine Spannungen entstehen? Darum geht es.
Aus Gedenkstätten für Kriegstote sollen „Lern- und Bildungsorte“ werden, sagen Sie. Können Sie ein Beispiel geben?
Auf Soldatenfriedhöfen liegen viele junge Menschen – eine ganze Generation wurde im Krieg verheizt. Auf sie kann man nicht die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges abladen, schließlich haben sich auch Menschen verweigert. Aber gleichzeitig waren viele von ihnen in Verbrechen involviert. Dieses anhand von Biografien genauer darzustellen, darum wollen wir uns kümmern. Wir wissen von immer mehr Fällen, wo Soldaten von der Wehrmachts-Justiz hingerichtet wurden. Das wollen wir auf den Kriegsgräberstätten präsenter machen.
Der Volksbund arbeitet seit der Wende auch in den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Aus dem Konflikt zwischen der Ukraine und Russland ist einer zwischen Ost und West geworden. Spüren Sie etwas von dieser neuen politischen Eiszeit?
Die Arbeit dort ist in den letzten 20 Jahren unser Schwerpunkt. Jedes Jahr werden in Russland 30 000 tote Soldaten umgebettet – von den Orten, wo sie gestorben sind, hin zu Sammelfriedhöfen, die wir angelegt haben. Aber zu Ihrer Frage: Wir hätten in diesem Jahr schwerpunktmäßig Umbettungen in der Ostukraine machen wollen – das war aufgrund der Ereignisse nicht möglich. Und wir merken an den Reaktionen der Bevölkerung: Begegnungen zwischen Russen und Ukrainern sind schwieriger geworden. Unsere Arbeit daher umso wichtiger.
Ganz wesentlich basiert Ihre Arbeit auch auf dem Engagement von Jugendlichen, die Sie zu internationalen Workcamps und Begegnungen an Gedenkstätten einladen. Wie groß ist das Interesse?
Die Jugendbegegnungsstätten sind nach wie vor sehr angefragt. Bei Workcamps ist es schwieriger, weil wir dafür Partner brauchen. Und weil viele Familien sagen: Ich kann doch jetzt mein Kind nicht in ein Workcamp nach Russland schicken. Obwohl die Lage es zuließe. Die Verunsicherung ist also gewachsen.
In Geltow nahe Potsdam wurde jetzt der „Wald der Erinnerung“ eingeweiht. Dort kann der über 100 Toten aus allen Einsatzgebieten der Bundeswehr gedacht werden sowie der etwa 3200 Soldaten und Mitarbeiter der Bundeswehr, die seit 1955 im Dienst zu Tode kamen. Wie stehen Sie zu dieser Gedenkstätte?
Ich finde es wichtig, der Opfer internationaler Einsätze der Bundeswehr zu gedenken und dafür einen öffentlich zugänglichen und würdigen Ort zu haben. Insofern begrüße ich den Ursprungsgedanken sehr. Was mir aber fehlt, ist eine Debatte, wie mit den zivilen Opfern außerhalb der Bundeswehr umgegangen werden soll. Zu unserer Sicherheitspolitik gehören ja nicht nur Auslandseinsätze der Bundeswehr, es gehören auch Polizeiarbeit und Entwicklungshilfe dazu. Auch so soll Stabilität in Krisengebieten geschaffen werden. Unter diesen zivilen Beschäftigten aber gab es ebenfalls Todesopfer. Sie sollten in dieses Gedenken einbezogen werden.
Zur Person: Markus Meckel (62) arbeitete lange als Pfarrer in Mecklenburg und gründete die Ost-SPD mit. Nach der Wende war er ein halbes Jahr DDR-Außenminister und danach Bundestagsabgeordneter. Seit Oktober 2013 ist er Präsident des Volksbundes.