Ursula von der Leyen hat recht. In jedem Punkt. Die Präsidentin der Europäischen Kommission hielt eine große Rede, die nur ein wirkliches Manko hatte: Sie wird nicht viel verändern. Und an den entscheidenden Stellen ihres Zukunftsentwurfes blieb sie Antworten schuldig und beschränkte sich – wie beim Abschnitt über ein neues Asylrecht – auf den Satz „Alle müssen mitmachen.“ Das stimmt, ist schon fast banal, hat aber mit der Wirklichkeit dieser Gemeinschaft nur wenig zu tun. Es sind nicht mehr die Werte, die diese Völkerfamilie zusammenhalten, sondern das Geld.
Die Beratungen über den nächsten Etatrahmen und das Aufbauprogramm enthüllten dies auf fast schon erschreckende Weise. Aus einem ambitionierten Rechtsstaatsmechanismus wurde ein leeres Versprechen. Und sogar die, die sich selbst „Sparsame Fünf“ nannten, handelten wesentlich im eigenen Interesse, um ihre Freibeträge zu erhöhen. Und so bleibt nach der guten und sehr engagierten Ansprache der Kommissionspräsidentin vor allem das schale Gefühl, dass sie spätestens in der kommenden Woche rüde ausgebremst werden wird, wenn sie von den Staaten in Sachen Asylrecht Zugeständnisse einfordert.
Natürlich ist dieses Bild einseitig, sogar unfair. Weil Länder wie Deutschland und Frankreich in der Pandemie über ihren Schatten gesprungen sind und gemeinsame Schuldscheine akzeptierten, um ihre Nachbarn zu unterstützen. Aber bei praktisch keinem anderen Thema liegen die Mitgliedstaaten auf einer Linie. Weder bei Frage, ob der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko auch persönlich abgestraft werden soll, noch beim Thema Weiterbau von Nord Stream 2 gibt es Einigkeit.
Selbst der viel beschworene „Green Deal“ wird noch für erhebliche Verwerfungen sorgen, wenn die Arbeit an den Details erst einmal begonnen hat. Lediglich beim Brexit und dem Umgang mit dem völlig aus der Spur geratenen britischen Premier Boris Johnson zieht man an einem Strang. Von der Kommissionspräsidentin hätte man erwartet, dass sie sagt, wie sie Brücken in einer Gemeinschaft bauen will, die bis auf den heutigen Tag sogar bei den Reisebeschränkungen wegen des Coronavirus kein gemeinsames Reglement für die Bürger hat.
Ein institutioneller Neuanfang
Von der Leyen weiß, dass es eine latente Antipathie vieler Staats- und Regierungschefs gegen die Zentralbehörde in Brüssel gibt. Mehr Macht für die EU ist nicht populär, aber auf viele Herausforderungen die einzig richtige Antwort. Von der ehemaligen deutschen Verteidigungsministerin hatten sich nicht wenige so etwas wie einen institutionellen Neuanfang gewünscht, eine Art Revision der Beziehungen zwischen Brüssel und den Regierungshauptstädten. Das mag in einer Phase, in der es um einen Ausgabenrahmen von 1,8 Billionen Euro geht, besonders schwierig sein – notwendig wäre es trotzdem.
Die europapolitischen Visionen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron stehen weiter im Raum. Er träumt von einer regelrechten Neugründung der Gemeinschaft, zumindest aber einem harten Kern jener Länder, die bereit sind, bei der europäischen Integration engagiertere Schritte zu unternehmen, während andere dann eben zurückbleiben. Man kann das als Chance sehen – oder aber als Gefahr einer Spaltung. Man hätte von Ursula von der Leyen daher gerne gewusst, was sie plant und mit welcher Union sie diese Ziele erreichen will.
Vor allem deshalb bleibt ihre Rede halbherzig. Die EU-Abgeordneten und die Bürger wissen zwar jetzt, was demnächst auf der Agenda steht. Aber sie fragen sich, was davon überhaupt machbar ist. Dass 27 Staats- und Regierungschefs über Themen unterschiedlicher Meinung sind, heißt noch nicht Spaltung. Streit ist immer auch eine kreative Kraft.
Aber solange sich die Führungskräfte aus den Mitgliedstaaten gegenseitig nur blockieren und damit sogar die Lösung selbstverständlicher Menschenrechtsfragen wie beim Umgang mit Flüchtlingen aus Kriegsgebieten verhindern, hat die Gemeinschaft ein großes Problem. Von der Leyen hinterließ bei ihrem Lagebericht nicht den Eindruck, einen Weg aus dieser Krise zu wissen.