Der Anstieg der Infiziertenzahlen in Europa drängt momentan alle anderen Themen an den Rand, auch in Frankreich. Dabei geschah am 16. Oktober etwas, das nicht weniger schwerwiegende Folgen haben dürfte als die Pandemie: Der 47-jährige Geschichts- und Geografielehre Samuel Paty wurde in einem Vorort von Paris am späten Nachmittag auf offener Straße enthauptet. Wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ berichtet, veröffentlichte der 18-jährige Täter kurz nach dem Geschehen auf Twitter ein Foto des Kopfs seines Opfers mit dem Zusatz: „An Macron, Herrscher der Ungläubigen, ich habe einen deiner Höllenhunde exekutiert, der es gewagt hat, Mohammed zu erniedrigen.“
Die entsetzliche Tat wird zweifellos toxische Folgen haben, die sich nach und nach entfalten. Sie verunsichert, sie schüchtert ein, aus ihr wächst im Kopf eine Schere. Nicht nur in Lehrerkollegien und bei Schulleitern, bei Mitschülerinnen und -schülern, auch in weiten Teilen der Gesellschaft. Man traut seiner eigenen Einschätzung nicht mehr, man beginnt, sich bei anderen abzusichern oder auch zu schweigen. Ein Vorort von Paris kann auch ein Ortsteil von Bremen sein.
Paty hatte keine Schere im Kopf und bezahlte mit seinem Leben. Er ließ es sich nicht nehmen, mit Achtklässlern über Meinungs- und Pressefreiheit zu reden und dieses Thema unter anderem an Mohammed-Karikaturen zu illustrieren. Der als besonnen geltende Lehrer wusste offensichtlich, was er tat: „Vorbeugend hatte der Lehrer den Schülern angeboten, die über die Karikaturen schockiert sein könnten, den Klassenraum zu verlassen“, berichtete die FAZ weiter. Über diese Unterrichtsstunde wurden Halbwahrheiten und Lügen verbreitet, ein Vater beschwerte sich massiv bei der Schulleitung und bei der Polizei. Im Internet wurde massiv gegen Paty gehetzt. Der 18-Jährige reiste aus der Normandie an, um dem Lehrer aufzulauern.
Jede Silbe wird auf die Goldwaage gelegt
Die Tat wirft nicht nur Fragen zum Umgang mit Islamismus auf, zu Chancen und Grenzen der Integration sowie zur Hetze im Netz, sie bedroht auch die Meinungsfreiheit im Allgemeinen. Ein Grundton der Ereiferung und der Ausgrenzung beherrscht mittlerweile die Kommunikation zwischen Menschen mit unterschiedlichen Positionen. Jede Silbe wird auf die Goldwaage gelegt. Bei jedem Satz, den man veröffentlicht, sagt oder schreibt oder postet, muss gut überlegt sein, wer ihn womöglich wie deuten kann und welchem Verdacht man sich aussetzen könnte. Dabei geht es nicht etwa nur um religiöse Themen, sondern auch um alles, was mit Flüchtlingen und Zuwanderern zu tun hat, mit Genderfragen und mit sexueller Identität, und es beginnt schon beim Vokabular. Man betritt vermintes Gelände. Ein mehrdeutiger, unscharfer Halbsatz und schon hat man sich in die Nesseln gesetzt. Ironie? Ganz gefährlich.
Mehr Feingefühl kann grundsätzlich nicht schaden, weil man Gefühle verletzen kann, ohne es zu wollen, oft sogar, ohne es zu ahnen – doch die Übergänge zur Selbstzensur sind fließend. Die Versuchung, lieber den Mund zu halten, um Missverständnisse und Ärger zu vermeiden, wächst oder schrumpft mit dem Zustand des Nervenkostüms.
Vor allem aber muss man sich um den Unterricht an den Schulen sorgen. Wie soll man unbefangen unterrichten und heikle Themen erörtern können, wenn man Sorgen haben muss, bei Schülern oder ihren Eltern anzuecken, sich Ärger einzuhandeln, angezeigt oder gar bedroht zu werden? Als die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün dieser Tage entschlossenes Handeln gegen den Islamismus einforderte, bekam sie nach eigener Auskunft eine Vielzahl von Reaktionen. Darunter von Lehrerinnen und Lehrern, „die von ihrer Angst vor Klassen mit bestimmtem Jugendlichen berichten. Jugendliche, die mit verbaler Gewalt Meinungsvielfalt im Klassenzimmer unterdrücken wollen; die den Lehrer*innen offen oder verdeckt drohen (...) Lehrinhalte werden infrage gestellt, Lehrer und Lehrerinnen beschimpft, Mitschüler*innen mundtot gemacht“.
In Frankreich, nicht einmal 1000 Kilometer von Bremen entfernt, wird ein Lehrer auf offener Straße enthauptet, weil er die Meinungs- und Pressefreiheit verteidigte. Der Aufschrei hierzulande war überhörbar. Es gab Mahnwachen in Paderborn und Bielefeld. Wie die „Zeit“ berichtet, haben französische Schulämter Lehrerinnen und Lehrer animiert, Patys gutem Beispiel zu folgen und möglichst bald die Mohammed-Karikaturen im Unterricht zu behandeln – Samuel Patys Vermächtnis. Ein solches (Ausrufe) Zeichen könnten, nein, müssen auch deutsche Schulen setzen, in Niedersachsen und Bremen.