Man könnte es mit Humor nehmen und die Spezies „Ökoschlunze“ (Selbstbeschreibung der Bürgerschaftsabgeordneten Kai Wargalla) näher betrachten. Die „Ökoschlunze“ (oecologicus squalidus), die sich in urbanen Räumen wie Bremen in den vergangenen 30 Jahren angesiedelt hat, ist innen rot oder grün, außen etwas blau (aktuelle Haarfarbe). Sie gedeiht prächtig in der sogenannten Subkultur, vorzugsweise im Viertel, wo sie keine natürlichen Feinde hat.
Gelegentlich verlässt die „Ökoschlunze“ ihr Biotop und wagt sich in unbekannte Gefilde wie die Bremische Bürgerschaft vor. Dort wird sie zum angriffslustigen Weibchen, das im politischen Wettbewerb ihr Revier beschützt. Die „Ökoschlunze“ verteidigt ihr Territorium nicht still, sie zwitschert intensiv mit ihren Artgenossen. Ausgesprochen charakteristisch für die Gattung ist die freie Selbstentfaltung und wenn es sich nur um die Zehen handelt.
Man könnte es auch mit Nachsicht nehmen, schließlich gibt es in deutschen Parlamenten Entblößungen anderer Art, insbesondere mündlicher, für die man sich gewaltig fremdschämt. Was sind dagegen schon Auffälligkeiten im Auftreten und schlechter Stil in Textil? Zumal die grüne Abgeordnete weiß Gott nicht die erste ist, die derart aus der Rolle fiel.
Mit bloßen Füßen ist offenbar noch kein Plenarsaal betreten worden, dafür ließ sich Joschka Fischer in Turn-schuhen vereidigen und entdeckte erst spät – als Mitglied der Bundesregierung – den Einreiher samt Weste und Krawatte für sich. Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder zählte laut „Ober-bayerischem Volksblatt“ zu den Provokateuren in der SPD, die sich vor fast 40 Jahren im Bundestagshandbuch ohne Binder präsentierten.
Später wurden Anlässe für Schröder in edlem Räuberzivil sorgsam inszeniert. Die Bremer Bundestagsabgeordnete Agnes Alpers (Linke) griff 2011 einmalig zur Krawatte, aus Protest: Unionsabgeordneten hatten darauf bestanden, dass Schriftführer Schlips oder Fliege zu tragen haben, ein Vertreter der Linken und einer der Grünen verweigerten sich.
Was in Bremen eine Provokation wäre, die selbst die Zurschaustellung nackter Brüste im Plenarsaal in den Schatten stellen dürfte, geschah 2015 im Bundestag: Dorothee Bär, CSU, nahm dort im Bayern-Trikot Platz. An der ausgewählten Mannschaft störten sich andere Parlamentarier nicht, sondern am Logo des Bayern-Sponsors Telekom, das Bär auf dem Busen trug.
Eine Frage der politischen Korrektheit
Man könnte mit einem Schulter-zucken darüber hinweggehen, dass einmal mehr gegen eine Kleiderordnung verstoßen worden ist, die nur deshalb ungeschrieben ist, weil es nicht nottat. Schon jeder Bankazubi weiß, dass er am Arbeitsplatz nicht sich selbst, sondern seinen Arbeitgeber repräsentiert. Bei Parlamentariern ist das nicht anders: Ein Abgeordnetenmandat ist kein Job und keine hübsche Freizeitbeschäftigung.
Parlamentarier sind nicht Mitglieder eines exklusiven Klubs oder Vereins. Sie sind gewählt, sie vertreten das Volk, sie werden für ihre Tätigkeit bezahlt – von den Steuerzahlern, nicht etwa von den Grünen oder der Landesvereinigung der „Ökoschlunzen“. Wie man sich im Parlament verhält, ist buchstäblich eine Frage der politischen Korrektheit.
Das Hohe Haus verdankt seinen Namen nicht der Anzahl der Etagen, sondern seiner Bedeutung. Dort schlägt das Herz der Demokratie. Abgeordnete haben eine herausgehobene Position und besondere Rechte, für sie gilt die Immunität – aus Respekt vor ihrer wichtigen und ehrwürdigen Tätigkeit. Sie diskutieren und entscheiden über das Wohl und Wehe des Landes.
Den politischen Profi scheidet vom Amateur nicht nur, dass er sich zu artikulieren, sondern auch zu benehmen weiß. Dabei geht es eben nicht um Bequemlichkeit, sondern um Würde. Wer nicht verstehen will, dass er das Parlament als ein Hohes Haus zu repräsentieren hat, darf sich nicht wundern, wenn es als Quasselbude, Selbstbedienungsladen oder Kasperletheater abgetan wird.
Die Ablehnung von Etikette ist todernst gemeint, ist Programm: Eine gewisse Wurschtigkeit (natürlich aus Sojamehl) wird als Haltung, als politische Verlautbarung überhöht. Was Bremen angeblich ausmacht – Toleranz und liebenswerte Lässigkeit – verkommt mehr und mehr zu Beliebigkeit und Ignoranz. Der vermeintliche Konventionsbruch ist selbst zur Konvention geworden. Fünfe gerade sein lassen ist eine bremische Grundrechenart. Das erklärt nicht nur nackte Füße und den Mangel an Einsicht, sondern auch die Pisa-Ergebnisse.