Den Anwälten der Überlebenden von Auschwitz reicht das nicht. Ihnen reicht nicht, was die Staatsanwaltschaft am Vortag als Strafe für den ehemaligen SS-Mann Oskar Gröning vor dem Landgericht Lüneburg gefordert hat. Der 94-jährige Gröning muss sich wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 300 000 Menschen im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau im Sommer 1944 verantworten.
Sechs Vertreter der Nebenklage plädieren an diesem Mittwoch im Gerichtssaal. Anwalt Christoph Rückel sagt es am deutlichsten: „Der Strafantrag der Staatsanwaltschaft ist für mich nicht akzeptabel.“
Der Strafrahmen für Beihilfe zum Mord liegt bei drei bis 15 Jahren. Die Staatsanwaltschaft hatte am Dienstag eine Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren gefordert. Die Opferanwälte fragen nun: Dreieinhalb Jahre für Beihilfe zum Massenmord? Davon vielleicht noch, wie von Staatsanwalt Jens Lehmann angeregt, 14 bis 22 Monate wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung abgezogen, sodass die Reststrafe womöglich zur Bewährung ausgesetzt wird? Gröning, der mutmaßliche Gehilfe in einer Mordmaschinerie, müsste in diesem Fall gar nicht mehr ins Gefängnis.
Opferanwalt Günther Feld war früher als Staatsanwalt in Köln an mehreren NS-Verfahren beteiligt. Er sagt an diesem Tag zwar auch, dass Grönings Alter, die Tatsache, dass die vorgeworfene Tat 71 Jahre zurückliegt, sein Geständnis und das Versagen der Justiz über all die Jahre berücksichtigt werden müsse. Aber bei 300 000 ermordeten Menschen könne die Strafe doch nicht nur dreieinhalb Jahre betragen – auch das sagt er. Ein konkretes Strafmaß nennt er nicht, nennt keiner der Nebenklagevertreter an diesem Tag.
„Warum erst jetzt?“
Anwältin Suzan Baymak-Winterseel geht noch weiter. Sie sieht in Grönings Tun keine Beihilfe zum Massenmord, sondern Mittäterschaft. Sie zitiert die Aussage von Gröning, dem sogenannten Buchhalter von Auschwitz: „Zu den Vorfällen kann ich nichts sagen, weil ich nicht dabei war. Das betraf nicht meinen Arbeitsbereich.“ Die Anwältin sagt: „Doch, Herr Gröning, Sie waren dabei. In Auschwitz konnte man nicht nicht dabei sein. Sie haben die verbrannten Leichen gerochen, Sie haben die im Todeskampf Schreienden gehört.“
Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung liege nicht vor, auch das sagt sie. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt hatte schon 1977 ein Ermittlungsverfahren gegen Gröning eingeleitet. 1985 wurde es eingestellt. Gröning selbst hatte vor Gericht jedoch gesagt, dass er damals gar nicht gewusst habe, dass gegen ihn ermittelt werde. Grönings Strafe könne also nicht wegen einer Verfahrensverzögerung gemildert werden, die er gar nicht gespürt habe, sagt nun Anwältin Baymak-Winterseel. Als der Kölner Strafrechtsprofessor Cornelius Nestler kurz zuvor Ähnliches sagte, sah es ganz so aus, als nicke auch Richter Franz Kompisch.
Nestler hatte zu Beginn des Tages einen Abriss über das „jahrzehntelange Versagen“ der Justiz im Umgang mit NS-Verbrechen gegeben. Nestler vertritt zusammen mit Anwalt Thomas Walther 51 der über 70 Nebenkläger. In seinem Plädoyer widmete er sich einer der wohl meist gestellten Frage im Umfeld des Prozesses: „Warum erst jetzt?“ Warum hat es 70 Jahre gedauert, bis Gröning sich vor einem Gericht verantworten muss?
Nestler spricht von einer „Geschichte der Nicht-Verfolgung“. Er erinnert an den Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1964/65 und den großen Ankläger Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Dieser habe die Morde in Auschwitz schon damals als „pyramidenförmig arbeitsteilig organisiertes Massenverbrechen“ bewertet. Das Landgericht Frankfurt folgte Bauer darin damals nicht. Es suchte für jeden Angeklagten nach einer konkret nachweisbaren Tat. „Grotesk“ nennt Nestler das. Bei dem „industriell organisierten Massenmord“ habe es sich um eine zusammenhängende Tat gehandelt, für die alle Beteiligten Verantwortung trügen, sagt Nestler.