Interview mit Bremer Professorin Simone Scherger findet den Bericht der Rentenkommission sehr ehrlich

Die Professorin für Soziologie erklärt, wieso für sie die Ergebnisse der Rentenkommission kein inhaltsleerer Minimalkonsens ist und wie ihre Bilanz nach zwei Jahren Arbeit in der Kommission ausfällt.
28.03.2020, 07:00 Uhr
Lesedauer: 5 Min
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Simone Scherger findet den Bericht der Rentenkommission sehr ehrlich
Von Hans-Ulrich Brandt

Zu unkonkret, zu wenig in die Zukunft gerichtet – die ersten Bewertungen der Empfehlungen der Rentenkommission fallen nicht sehr positiv aus. Warum sind die Experten so mutlos?

Simone Scherger: Die ersten Bewertungen fallen unterschiedlich aus. Viele Akteure hätte sich radikalere Vorschläge gewünscht. Allerdings geht das bei manchen in die Richtung, die Regelaltersgrenze weiter anzuheben und private Vorsorge weiter auszubauen. Andere wiederum, vor allem die Sozialverbände, hätten sich ein klares Votum für ein höheres Rentenniveau gewünscht und begrüßen es, dass eine Anhebung der Regelaltersgrenze im Moment noch nicht klar empfohlen wird. Das ist eine große Spannbreite von Forderungen, die kaum alle gleichzeitig zu erfüllen sind. Und genau diese gesellschaftlichen Positionen haben sich in der Zusammensetzung der Kommission widergespiegelt, in der ja auch Vertreterinnen und Vertreter der Koalitionsparteien saßen.

Ein gemeinsam getragenes langfristiges Rentenkonzept war also von vornherein zum Scheitern verurteilt?

Durch diese breite Zusammensetzung der Rentenkommission gab es einen großen Dissens in Bezug auf viele größere Stellschrauben und Handlungsoptionen, etwa das Rentenniveau, den akzeptablen Rentenbeitragssatz, eine weitere Anhebung der Regelaltersgrenze oder die Rolle privater Vorsorge. Insofern ist unser Ergebnis nur eine Art Minimalkonsens, der aber gleichwohl nicht inhaltsleer ist und wichtige Empfehlungen und Orientierungsgrößen auch prozeduraler Art enthält. Der Kommissionsbericht ist in gewisser Hinsicht auch sehr ehrlich in Bezug auf das, was derzeit überhaupt politisch umgesetzt werden kann.

Waren die Erwartungen an die Kommission zu hoch?

Vielleicht. Man könnte auch die Zusammensetzung der Kommission kritisieren. Aber „radikalere“ Vorschläge einer anders zusammengesetzten Kommission hätten möglicherweise auch weniger Chancen auf politische Umsetzung gehabt.

Ein Reformpaket, das eine Neujustierung der Rentenversicherung vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung ermöglicht, war erhofft worden. Arbeitsminister Heil hatte sogar die Vorlage für eine „Großreform“ verlangt. Stattdessen zaghafte Empfehlungen und ein bisschen Feintuning. Damit können Sie nicht zufrieden sein?

Vor dem Hintergrund der gerade beschriebenen Bedingungen in der Kommission war das, was wir erarbeitet haben, schon ein Kraftakt, weil die Positionen so weit auseinander lagen. In meinen Augen, und darauf konnten wir uns auch grob einigen, ist die gesetzliche Rentenversicherung als zentrale Grundlage der Alterssicherung in Deutschland besser als ihr Ruf und grundsätzlich durchaus für die zukünftigen Herausforderungen geeignet. Sicherlich reichen unsere Vorschläge nicht für die nächsten 30 Jahre, aber der immer wieder gehörte Ruf nach dem „großen Wurf“ sitzt auch der Illusion auf, dass es die eine große Lösung für die Herausforderung der fortschreitenden Alterung gibt.

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Und diesen großen Wurf gibt es nicht?

Wir haben uns viele dieser größeren Reformideen angeschaut, sie haben aber bei genauem Hinsehen alle größere Haken und Nachteile. Eine schnelle pauschale Anhebung der Regelaltersgrenze ist derzeit ungerecht, weil sie Härten für Ärmere bedeutet, die eine geringere Lebenserwartung haben. Ein Ausbau der privaten Altersvorsorge ist mit großen Risiken behaftet, und bisher erfüllt die private Altersvorsorge viele an sie gerichtete Erwartungen nicht. Und natürlich stellen steigende Beiträge in der Rentenversicherung eine Belastung für die Rentenversicherten dar. Alle diese Debatten sollten breit gesellschaftlich fortgesetzt werden. Es ist unbestreitbar, dass der demografische Wandel uns als Gesellschaft etwas kosten wird. Aber wir sind weiterhin eine wohlhabende Gesellschaft und es ist kein Alarmismus angebracht. Es geht darum, die entstehenden Kosten gut zu verteilen.

Die Kommission traut sich nicht an eine wirkliche Reform der Rentenversicherung, die Politik ohnehin nicht. Kein wirklich beruhigender Zustand, oder?

Es stimmt sicherlich, dass Politik häufig zu kurzfristig und orientiert an Wahlzyklen denkt. Da sind sicherlich oft Fehler gemacht worden. Gleichzeitig ist es gerade in einem so großen und komplexen Bereich wie der Alterssicherung auch so, dass jede große Reform sehr sorgfältig abgewogen und geplant werden muss, da die Umsetzung sehr lange dauert und mit großen Transaktionskosten verbunden ist. In der Vergangenheit haben viele Änderungen, beispielsweise der Rentenanpassungsformel, kaum länger als zehn oder zwanzig Jahre gehalten, dann wurden sie von veränderten Umständen oder veränderten politischen Mehrheitsverhältnissen überholt. Verlässliche Prognosen, die über den Zeitraum von zehn, fünfzehn Jahren hinausgehen, können kaum getroffen werden. Ein so großer Institutionenkomplex wie die Alterssicherung muss also zumindest ein stückweit auch immer „auf Sicht“ gefahren werden. Zukünftige Herausforderungen müssen aber natürlich immer im Blick gehalten werden, und dafür gibt der Bericht der Kommission durchaus Ideen und Vorgaben.

Wenn schon bei der gesetzlichen Rente alles in etwa so weiterlaufen soll wie bisher, gibt es denn bei der betrieblichen und privaten Altersvorsorge wegweisende Vorschläge?

Auch in diesen Bereichen finden sich in den Empfehlungen der Kommission eher kleinere, schrittweise Vorschläge. Überlegungen zu einer Pflicht der betrieblichen oder privaten Vorsorge für alle (Obligatorium) konnten sich nicht durchsetzen. Dass die Kommission auch hier vorsichtig ist, hat zwei gute Gründe: Erstens möchten insbesondere die Sozialpartner das bisherige System der betrieblichen Altersvorsorge bewahren und befürchten im Falle eines Obligatoriums negative Nebenwirkungen auf bisherige Strukturen. Zweitens haben die bisherigen Erfahrungen mit privater Altersvorsorge in Form der Riester-Rente gezeigt, dass diese sehr viele in sie gesetzte Erwartungen, etwa bei ihrer Verbreitung und Höhe der Erträge, nicht erfüllt hat. Deswegen empfiehlt die Kommission, hier zunächst eine größere Übersichtlichkeit und Transparenz zu schaffen, unter anderem durch einheitlichere Förderregelungen, bessere Informationen sowie bessere Produktstandards bei privaten Altersvorsorgeprodukten, die auch in Kooperation mit öffentlichen Trägern organisiert und angeboten werden können.

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Gibt es weitere Nachbesserungen bei der Riester-Rente?

Was die Erträge von Riester-Renten angeht, gibt es bisher gar keine verlässlichen Zahlen. In einigen Jahren kann dann hoffentlich klarer gesehen werden, ob, in welcher Form und in welchem Umfang private Altersvorsorge ihre Versprechen als ein Baustein einer verlässlichen Altersvorsorge wirklich erfüllen kann.

Nach fast zwei Jahren Arbeit in der Kommission – wie fällt Ihre persönliche Bilanz aus?

Die Arbeit in der Kommission war für mich sehr spannend und ich habe viel gelernt – inhaltlich, aber auch was Prozesse in der Politik, Verhandlungen und ähnliches angeht. Gleichzeitig war es auch eine anstrengende Zeit und mir sind die Grenzen dessen, was Wissenschaft in der Politik bewirken kann und sollte, sehr deutlich geworden. Aus wissenschaftlichen Befunden lassen sich keine eindeutigen Handlungsanweisungen für Politik ableiten, allenfalls Spielräume dessen, was sinnvoll ist – wenn man weiß, was man erreichen will. Letzteres zu klären, ist wiederum Aufgabe der Politik.

Sie beneiden also die Politik nicht um ihre Aufgabe, das letzte Wort zu haben?

Bei aller Kritik an Politikerinnen und Politikern, an Rentenpolitik und der Kurzsichtigkeit mancher politischen Maßnahmen ist mein Respekt vor ihnen eher gestiegen. Politik ist ein hartes Geschäft und diejenigen, mit denen ich zu tun hatte, haben alle aus Überzeugung und mit Engagement agiert. Das Thema Alterssicherung wird mich sicherlich noch lange begleiten. Der Bericht der Kommission sollte in weitere, gesellschaftlich breit zu führende Debatten eingehen.

Die Fragen stellte Hans-Ulrich Brandt.

Info

Zur Person

Simone Scherger

ist Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Lebenslauforientierte Sozialpolitik. Sie arbeitet am Socium, dem Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Uni Bremen, und ist Mitglied der Rentenkommission.

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