Mit den Ketten kam die Anonymität. Die Supermärkte wurden größer, ihr Sortiment breiter, das Einkaufen beliebiger. Kunden konnten ziellos und unbehelligt durch die Gänge streifen. Alles da, für jeden, immer. Persönliche Beratung? Nicht mehr nötig. Das gilt inzwischen nicht mehr.
Wer heute auf eine Werbetafel über der Kasse blickt, wird in vielen Märkten nicht irgendeine Werbung über den Bildschirm flimmern sehen. Der Kunde bekommt vorgesetzt, was ihn vermeintlich interessiert. Dafür sorgt eine Kamera, die neben dem Werbemonitor baumelt. Sie scannt die Gesichter der Kunden und untersucht, wer da gerade vor ihr steht: Frau oder Mann, alt oder jung.
Die Kamera erkennt auch, wie lange jemand auf die Werbung sieht. Daraufhin wählt eine Software einen Spot aus, angepasst an die Gruppe vor der Kasse. In 40 Real-Märkten wurde dieses System bereits getestet, in rund 100 Partnerfilialen der Deutschen Post, in Schreibwarenläden und Tankstellen etwa, läuft das Pilotprojekt noch bis zum Ende dieses Jahres.
Immer öfter wird die Logik des digitalen Einkaufens in die analoge Welt übersetzt. Wer online einkauft, hinterlässt Spuren. Die Händler nutzen das, sie verfolgen die Spuren ihrer Kunden, ihren Standort, ihren Suchverlauf, die Dauer, mit der sie sich Produkte ansehen. Tracking nennt sich diese Methode. Sie hilft den Online-Anbietern, ihre Kunden besser einzuschätzen. Und wer mehr über seine Kunden weiß, kann seine Werbung passgenauer auf sie zuschneiden.
Dieses Credo hat es nun auch in den stationären Einzelhandel in Deutschland geschafft. Lange zögerten sie dort mit der Digitalisierung. Inzwischen, glauben sie, ließen ihnen Online-Händler wie Amazon keine Wahl mehr. Auch der Einzelhandel will nun den anonymen Kunden abschaffen. Man möchte mehr wissen über sie, über ihr Verhalten im Laden, ihre Kaufentscheidungen. Und um an dieses Wissen zu gelangen, wird auch in Deutschland zunehmend mehr Technik eingesetzt, um den Kunden zu durchleuchten.
Tante Emma wird zum Algorithmus
„Der digitalisierte Supermarkt will dem Kunden das Tante-Emma-Gefühl zurückgeben“, sagt Cetin Acar, IT-Experte des EHI Retail Institute, einem Forschungsinstitut für den Handel. „Tante Emma wusste immer, wer wann was braucht und konnte individuell auf die Bedürfnisse ihrer Kunden eingehen.“ Anno 2017 ist Tante Emma geschichtslos. Die Kunden begegnen ihr nicht wirklich im Laden. Sie ist keine Person. Tante Emma ist heute ein statischer Code, ein Algorithmus, eine Gesichtserkennungssoftware. Das Versprechen aber ist geblieben: ein persönliches Einkaufserlebnis. Tipps, die einen tatsächlich interessieren. Rabatte und Aktionen, die einem wirklich nutzen. Neu ist, was Tante Emma im Gegenzug erwartet: die Daten ihrer Kunden. Und ihre Gesichter.
Noch untersucht die Gesichtserkennungssoftware in den Märkten vor allem Alter und Geschlecht. Technisch ist dabei längst mehr möglich. Kameras können inzwischen auch die Mimik analysieren, Emotionen und Gefühle deuten. Das ist ein Problem, glaubt Florian Glatzner. Der Referent für Digitales und Medien beim Bundesverband der Verbraucherzentrale warnt vor Tracking im Supermarkt. „Wenn die Verbraucher nicht wissen, dass sie mit individuell auf sie zugeschnittener Werbung konfrontiert werden, grenzt das an Manipulation“, sagt er.
Die Unternehmen sollten den Kunden deutlich machen, dass ihre Gesichter für Werbezwecke ausgewertet werden, fordert Florian Glatzner. Der Kunde könne ja nirgendwohin mit seinem Gesicht, wenn er erst mal an der Kasse vor der Kamera stehe. „Der Kunde muss eine Wahl haben. Er darf nicht gezwungen werden, sein Gesicht von einer Kamera für Werbung scannen zu lassen.“ Deswegen müsse es in jedem Supermarkt weiterhin Kassen geben, über denen keine Gesichtserkennungskameras hingen.
Bei der Deutschen Post sieht man das anders. „Kameras sind im öffentlichen Raum mittlerweile allgegenwärtig“, sagt Unternehmenssprecher Jens-Uwe Hogardt. „Warum sich der Kunde dann gerade bei der Post Sorgen machen sollte, verstehen wir nicht.“ Schließlich speichere die derzeit in den Partnerfilialen getestete Software die Bilder der Kunden nicht. „Die Analyse wird in unter 100 Millisekunden durchgeführt. Im Anschluss werden die Kamerabilder verworfen“, sagt Hogardt. Überhaupt sichere das System keine persönlichen Daten. Mit dem Videoüberwachungsschild am Eingang der Filialen sei auch ausreichend auf die Kameras hingewiesen, sagt der Post-Sprecher.
Real reagierte anders auf die Kritik. Den Eindruck, in den Märkten würden Daten ohne das Wissen der Kunden erhoben, wollte der Konzern so nicht stehen lassen. Also montierte man dort die Videokameras und Werbebildschirme Ende Juni wieder ab. Dabei sind Kameras nur eine Variante von vielen. Tracking findet längst auch in anderen Formen in deutschen Märkten statt. Egal ob Ultraschall, Bluetooth oder Sensoren: Kaum eine Technik, mit der die Einzelhändler nicht versuchen, die Vorlieben ihrer Kunden herauszufinden, um ihnen persönliche Produkte anzupreisen.
Neben der Gesichtserkennung wird das Wifi-Tracking besonders oft eingesetzt. Die Konzerne nutzen dabei, dass viele Kunden das Wlan ihres Telefons angeschaltet lassen, während sie durch den Supermarkt gehen. Dafür verteilen sie mehrere Wlan-Hotspots im Laden. Immer wenn sich die Smartphones automatisch in einen dieser Hotspots einwählen, senden sie Signale. So kann auf etwa einen halben Meter genau nachverfolgt werden, wie sich die Kunden im Laden bewegen. Eine sogenannte Heatmap zeigt, an welchem Regal sie stehen bleiben. Welchen Aktionsstand sie übersehen.
„Diese Anwendung ist inzwischen weit verbreitet. Viele Supermärkte experimentieren damit“, sagt EHI-Handelsforscher Cetin Acar. Das Wifi-Tracking mache Sinn, wenn sich etwas im Markt verändere und man testen wolle, wie gut die Kunden etwa bestimmte Werbeaktionen annehmen. „Die Technik kann zeigen, ob es tote Bereiche im Markt gibt, die Kunden gar nicht ansteuern“, sagt Acar. Er hält das Wifi-Tracking für unbedenklich – solange die Supermärkte die Bewegungsprofile anonymisierten und sich darauf beschränkten, Muster im Massenverhalten zu erkennen.
„Wifi-Tracking wird zum Punkt, an dem Online- und Offline-Handel miteinander verschmelzen“, sagt Verbraucherschützer Florian Glatzner. Wer künftig lange vor einem Warenregal stehen bleibe, bekomme die passende Werbung zu den Produkten im Regal in einer App auf seinem Smartphone angezeigt. „Das wird etwas verändern“, sagt Florian Glatzner und fordert: „Wir sollten die Entscheidung, wie wir künftig einkaufen, nicht allein den Konzernen überlassen.“