Zunahme der Lebenserwartung in Ländern wie Deutschland hängt unter anderem mit der Ernährung zusammen Mehr Zeit zwischen Kindheit und Alter

Wohl nie zuvor hat die durchschnittliche Lebenszeit des Menschen so rasch zugenommen wie im vergangenen Jahrhundert. Mit dem Aufwärtstrend könne es aber auch schnell wieder vorbei sein, sagen Experten. Krisen vergangener Jahre liefern Belege dafür.
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Von ANNETT STEIN

Wohl nie zuvor hat die durchschnittliche Lebenszeit des Menschen so rasch zugenommen wie im vergangenen Jahrhundert. Mit dem Aufwärtstrend könne es aber auch schnell wieder vorbei sein, sagen Experten. Krisen vergangener Jahre liefern Belege dafür.

Gut 21 Jahre hat ein 60-jähriger Mann in Deutschland heute im Schnitt noch vor sich; bei einer Frau sind es sogar fast 25 Jahre. „Bisherige Ergebnisse weisen darauf hin, dass wir vor allem gesunde Lebenszeit gewonnen haben“ , sagt Professor Siegfried Geyer von der Medizinischen Hochschule Hannover. Mehr als 14 000 Menschen in Deutschland sind nach Daten des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock 100 Jahre oder älter. Die Zahl habe sich damit binnen 30 Jahren etwa verzehnfacht. Allein in den vergangenen 130 Jahren hat sich die durchschnittliche Lebenszeit mehr als verdoppelt – was nicht bedeutet, dass es einst keine 80-Jährigen gab. „Alte gab es zu allen Zeiten, aber sie waren seltener“, sagt der Humanbiologe Professor Carsten Niemitz von der Freien Universität Berlin. Vor allem aber hätten es viel weniger Kinder geschafft, überhaupt erwachsen zu werden.

Neben der Medizin sind Frieden und gute Ernährung wichtige Voraussetzungen für ein längeres Leben. „Vitamine gibt es auch im Winter; frieren muss auch niemand mehr“, sagt Niemitz. Einst, vor Einführung der Konservierung mithilfe der Milchsäuregärung, seien nicht nur Seefahrer an der Vitamin-C-Mangelkrankheit Skorbut gestorben. „Tödlich waren oft auch Zahnkrankheiten und Entzündungen des Mundraums.“ Ihren Tribut forderte zudem die lebenslange Schufterei. „Die meisten Menschen waren hart arbeitende Bauern“, erläutert der Wissenschaftler.

Langsameres Altern

Nach seinen Worten werden die Menschen heute nicht nur älter, sondern dies in gewissem Sinne auch langsamer. „Vor 100 Jahren hat man mit 50 schon auf dem Rentnerbänkchen vorm Haus gesessen.“ Eine Analyse von Florian Trachte von der Medizinischen Hochschule Hannover hat ergeben, dass in Deutschland mehr Senioren im Alter von 65 bis 89 Jahren ohne Hilfe zurechtkommen als noch in den 1990er-Jahren.

Auch wenn es angesichts des enormen Anstiegs der Lebenserwartung anders erscheinen mag – biologisch hat sich im Menschenkörper nichts grundlegend verändert. „Der Steinzeitmensch war nicht auf ein anderes Alter ausgelegt“ , sagt Niemitz. „Nur das Lebensrisiko war ein anderes.“ Ein ähnliches Phänomen gebe es bei Affen in Gefangenschaft, deren Leben weniger stressig und gefahrvoll sei als das wilder Artgenossen. „Ich bin einmal einem 45 Jahre alten Gorilla in freier Natur begegnet“, erzählt der Biologe. „Da hieß es, das sei ein sehr sehr alter Herr.“ Im Zoo hingegen kämen 50 Jahre alte Kapuzineraffen vor, und auf die 60 zugehende Schimpansen seien keine Seltenheit mehr. Dass Menschen noch deutlich älter werden, hängt nach den Angaben des Wissenschaftlers entwicklungsgeschichtlich mit der besonders langen Kindheit zusammen. Junge Menschen hätten größere Überlebenschancen gehabt, wenn sich auch die Großeltern – vor allem aber die Oma – um sie gekümmert hätten. In einem Wechselspiel habe die steigende Lebenserwartung wiederum eine längere Kindheit und damit weiteres Hirnwachstum möglich gemacht.

Mit der Evolution lässt sich auch erklären, warum Ausdauersportler noch mit 45 Jahren Marathonläufe gewinnen. Die Vorfahren des anatomisch modernen Menschen, des Homo sapiens, hätten sich vor Millionen Jahren in den Savannen Afrikas zu Läufern entwickelt, erklärt Niemitz. „Es war wichtig, während der ganzen Reproduktionszeit ein guter Wanderer und Läufer zu bleiben.“ Auch das lebenslange Wachstum der Ohren hat vermutlich evolutionäre Ursachen. Vermessungen Tausender Ohren haben gezeigt, dass die Ohrmuschel alle zwei bis drei Jahre etwa einen Millimeter zulegt. „Der äußere Teil wird bis ins hohe Alter länger“, sagt Niemitz. Damit werde offenbar der altersbedingte Hörverlust zumindest teilweise kompensiert.

Steigendes Krankheitsrisiko

Werden also künftig 150-Jährige mit gewaltigen Segelohren die Welt bevölkern? Die Experten glauben nicht daran. Zum einen dürfe die im Mittel gestiegene Lebenserwartung nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Mensch mit 80 Jahren nach wie vor meist ein kranker Mensch sei. „Jeder so alte Mann trägt die Veranlagung für einen Prostata-Krebs in sich, der allerdings nicht auszubrechen braucht“ , sagt Niemitz. Auch für andere Krebsarten, Krankheiten und Demenzen gelte, dass sie ab einem bestimmten Alter bei jedem eine Rolle spielten.

Laut Geyer kommen derzeit in Deutschland mit jedem Jahr drei weitere Monate Lebenserwartung für Neugeborene hinzu. Es sei aber nicht anzunehmen, dass dies auf Dauer so weitergehen werde. Infolge der Wirtschaftskrise in Russland 1998/99 sei die Lebenserwartung in dem Land vor allem bei Männern rasch stark auf unter 60 Jahre gesunken. Eine ähnliche Entwicklung habe es in den vergangenen Jahren in Griechenland gegeben. Fast immer und in fast allen Gesellschaften konnten die Bessergestellten auf mehr Jahre hoffen. Auch die deutsche Statistik zeigt das. Dass Frauen fast immer ein bisschen älter werden als Männer, hängt nach den Worten von Geyer nicht nur mit einem weniger riskanten Lebenswandel zusammen. „Studien haben gezeigt, dass es selbst bei Nonnen und Mönchen, die identische Lebensbedingungen haben, noch eineinhalb bis zwei Jahre Differenz gibt.“

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