Zwischen dem Nordseebad Dangast und der Halbinsel Butjadingen liegt der Abzweig in den Hafen Varel – wenn man übers Wasser anreist. Durch die Wilhelm-Kammann-Sielschleuse gelangen Besucher mit Booten und Schiffen auf die maritime Meile, die in Varel rund 2000 Meter misst. An ihr spiegelt sich seit Jahrhunderten der Pegel wirtschaftlichen Auf- und Umschwungs.
Wer den Vareler Hafen im Jadebusen ansteuert, muss die Gezeiten im Blick haben. Die Schleuse dient dem Hochwasserschutz, sie kann nur geöffnet werden, wenn Außen- und Binnenwasser auf gleichem Stand sind. So mächtig wie hier ist der Tidenhub an der Nordseeküste sonst nur vor Wilhelmshaven: bis zu 3,70 Meter. Ein gewaltiges Auf und Ab, ein Sinnbild der gesamten Hafengeschichte, die irgendwann im 15. Jahrhundert beginnt.
Wenn Gerold Lühken mit Besuchergruppen den großen Hafenrundgang antritt, wird das genauer erklärt. Irgendwann-Daten gibt es nicht entlang der Strecke zwischen dem Zollamt am Kopf des Hafen-
beckens und der Schleuse. Der 68-Jährige weiß, was er sagt. Seit drei Jahren erklärt er Besuchern im Auftrag der Kurverwaltung seine Heimat. „Ich bin schon als Kind mit dem Fahrrad von Haus zu Haus gefahren und habe Granat verkauft.“
An der sogenannten Hafenseite ist heute die Gastronomie zu Hause. Es gibt sogar ein Brauhaus, das Tide-Bier ausschenkt. Dort am Kai hat schon Lühkens Urgroßvater seine Hütte für Fangkörbe und Stellnetze errichtet. Sie steht noch immer. Die Schautafel, die auf den historischen Ort hinweist, nimmt ein Gutteil der Fassade ein. Auch der Großvater und der Vater waren Krabbenfischer. Gerold Lühken, der weißbärtige Nachfahre, hat als erster seine Brötchen nicht mit Krabben- und Fischfang, sondern als Betriebswirt bei einem Energieversorgungsunternehmen verdient. Jetzt ist er ehrenamtlicher „Hafenbuttjer“.
Lühken ist daran gewöhnt, dass Gäste aus Nordrhein-Westfalen kein Platt verstehen und sich erkundigen, was das heißt. „Das ist ein energiegeladener Hafenjunge, der von dieser Seite des Hafens kommt, nicht von der Stadtseite.“ Da muss man schon unterscheiden. Wie Uschi Reents. Sie ist die Betreiberin der Fischgaststätte „Vareler Hafen“ samt der Außenstelle „Up’n Prüfstand“, der mutmaßlich kleinsten Kneipe Deutschlands. Das 4,5 Quadratmeter große Häuschen mit Zapf- und Stereoanlage, mit Tresen und Spültheke bietet Platz für ungefähr vier Gäste. Vorausgesetzt, sie ordern kein großes Bier.
Der Name leitet sich vom ehemaligen Verwendungszweck ab: „Früher war das der Lkw-Bremsenprüfstand von Enno Ulfers. Und davor war es eine Waage für Fischgammel.“ Enno Ulfers habe das Haus ihrem Mann geschenkt, erzählt die Wirtin, die vor 31 Jahren aus Wilhelmshaven nach Varel kam. „Ich fühl mich aber nicht als
Varelerin, sondern als Hafnerin“, sagt Uschi Reents.
Krabben, auch Butt, Scholle und Aal spielen heute außerhalb der Restaurants keine große Rolle mehr im Hafen von Varel. Früher hingegen wurde selbst der Beifang bis auf die letzte Gräte verarbeitet. „Bis in die 1960er-Jahre gab es 20 kleine Fischerei-
betriebe, die hier mit 400 Korbreihen alles abgefischt haben“, erzählt Buttjer Lühken. Die Erträge gingen immer weiter zurück. „Man hätte Kutter gebraucht, um weiter draußen Schleppnetzfischerei zu betreiben.“ Die meisten Fischer sattelten um.
Auch die beiden Muschelkalkwerke waren dem Untergang geweiht, „weil sich mit der aufkommenden Massentierhaltung die Fütterungsmethoden änderten“. Den Slogan von Muschelmüller Wilhelm Poppe hat der Hafenbuttjer noch parat: „Gestern noch in Meeresfluten, heute schon in Poppes Tuten.“ Auch ein Knochenleimfabrikant strich die Segel im Hafen. Die Produktionsstätten werden heute von einer Maschinenbaufirma genutzt, ebenso wie die Trocknungshalle der früheren Ziegelei. „Es gibt heute nur noch einen Berufs-
fischer in Varel, und der landet in Dangast an – der Hafen lässt sich tideunabhängig erreichen“, sagt Gerold Lühken. So liegt der Akzent klar auf der Freizeitnutzung. „Der Wassersportverein Varel, der WSV, belegt allein 150 der insgesamt 250 Liegeplätze im Hafen“, sagt der Buttjer. Er war 30 Jahre lang Vorsitzender des Vereins.
Eine Krabbenbude gibt es trotzdem im Vareler Hafen. Auf der Stadtseite allerdings. Die Straße heißt Christiansburg, ein Name, der sich ebenso einfach herleitet, wie „Up’n Prüfstand“: Dort ließ Dänen-
könig Christian V. im 17. Jahrhundert die nach ihm benannte Burg als Festung und Kriegshafen errichten. „Nach 16 Jahren war alles wieder weg“, erzählt der Hafenbuttjer. Der Schlick erwies sich als kein guter Ort für das Fundament einer Burg.
„Die Christiansburg ist heute die gefährlichste Straße Varels“, ulkt Lühken. Nicht weil gerade die Auszubildenden der Stadtverwaltung im Dienstkleinwagen auf Erkundungstour durchs Hafengebiet vorbeikommen. Es ist wegen des Verkaufsladens der Keksfabrik. „Das zieht die Leute unheimlich an – und vom Parkplatz aus müssen sie erst über die Fahrbahn.“
Insa Jung vom Stadtmarketing weiß noch, wie es für Aufregung sorgte, dass die Fabrik ihre Weihnachtskeksproduktion einstellen wollte. Obwohl es auch eine Galerie im alten Zollamt gibt, Lokale und ein Antiquariat – der Keksladen ist eine echte Attraktion. Der Verlust des Weihnachtsgebäcks konnte abgewendet werden. „Nun wird es bald wieder nach Zimtsternen duften“, sagt Insa Jung. Für sie ist der Hafen ein Ort, der „Entspannung pur“ verheißt. „Man kann manchmal die Atmosphäre gar nicht beschreiben.“
Dabei hilft Gerald Chmielewski gern: „Hier ist eben alles geprägt von der Lebensart der Friesen“, erklärt er der aus Ostfriesland Zugereisten. „Und das hier ist ein Mischgebiet, da kann man auch mal bis drei Uhr Party machen.“ Chmielewski ist Grafik-Designer und organisiert mit dem Kulturförderverein Kunstdünger allerlei Kurzweiliges im Hafen. Im Mai gibt es die Erfinderbörse zum Mitmachen. Als deren Archiv versteht Gerald Chmielewski das Spijöök. „Das heißt Spaß, Quatschkram“, sagt er. Und es ist der Name des ersten Museums für Kuriositäten und Seemanns-
legenden. Als Eintrittskarte gibt es ein Stück Seemannsgarn – sodann wird Besuchern ein Seebär nach dem anderen aufgebunden. „Bei den Führungen jonglieren wir mit realen Daten und Ereignissen und mit haarsträubenden Geschichten“, sagt Chmielewski. Die von Admiral Brommy etwa, der als Gründer der Kriegsmarine so lange erfolglos mit dem Brommykreisel navigierte, bis ein Erfinderinnenteam aus sechs Tanten mit der Erfindung des Sextanten für Orientierung auf See sorgte.
„Die Exponate sind zu 80 Prozent Sperrmüll“, räumt der blonde Macher ein. Das russische Atomtauchboot „Schutka“ mit Hamsterrad-Notstromaggregat, das vor der Tür steht, ist eines der größten Beispiele dafür: Es besteht aus alten Öltanks, sieht aber fast aus, als wäre es wirklich „vom U-Boot-Flohmarkt in Wladiwostok“. Mit ihm ist ein Hingucker aufgetaucht, vielleicht ein Symbol für den Aufschwung im Vareler Hafen.
Dafür gibt es ernste Anzeichen: Als die Gesellschaft für deutsche Sprache enthüllte, ihr Wort des Jahres 2009 sei Abwrackprämie, bekamen die „Schutka“-Kapitäne Rückenwind aus dem Osten: Der Landesheimatverband Mecklenburg-Vorpommern kürte sein plattdeutsches Lieblingswort: Spijöök.
In der nächsten Folge stellen wir die Kleinstadt Haren an der Ems vor, die zwölf Reedereien und 250 Seeschiffe beheimatet.
Auf Schlick gebaut
◼ Im 17. Jahrhundert war das Gebiet am
Vareler Hafen Festungsstandort, doch
Dänenkönig Christian V. hatte seine Burg auf Schlick gebaut. Im Jahr 1850 wurden 650 Schiffsbewegungen gezählt – mehr als in Hamburg. Kurz darauf entstand die Hafenschleuse, es wurde sogar eine Dampfschifffahrtslinie Varel–London gegründet, die wöchentlich verkehrte. Doch damit war 1874 schon wieder Schluss – wegen des Schlicks. Für die Fischerei, bis in die 1950er-Jahre vornehmlich mit Körben und Stellnetzen betrieben, hatte der Hafen noch Bedeutung. Als Ende der 60er-Jahre auch Muschelkalk nicht mehr gefragt war, ging die Handelsschifffahrt im Vareler Hafen endgültig zurück.