D ass die Chinesische Wollhandkrabbe hierzulande zu den Tierarten gehört, die alles andere als besonders beliebt sind, hat eine Reihe von Gründen. Vor dem Ersten Weltkrieg mit Ballastwasser – dem Wasser, das in Schiffen Ladung ersetzt und so zur Stabilisierung beiträgt – nach Mitteleuropa gelangt, hat sich die Art stark verbreitet. Wollhandkrabben verdrängen andere Krebse, können mit ihren Scheren Netze zerschneiden und graben Gänge, die unter Umständen die Funktionstüchtigkeit von Uferbefestigungen beeinträchtigen. Es gibt aber auch eine andere Seite der Medaille: Die Tiere besitzen Fähigkeiten, die sie als Vorbild für neue Technologien interessant machen, etwa für Landegeräte auf anderen Himmelskörpern.
Die Professorin Antonia Kesel ist Biologin und leitet den Studiengang Bionik und das Bionik-Innovations-Centrum an der Hochschule Bremen. Das Wort Bionik ist aus Bestandteilen der Begriffe Biologie und Technik zusammengesetzt worden. Die Bremer Wissenschaftlerin und ihre Kollegen beschäftigen sich mit der Frage, wie sich bei der Entwicklung neuer Technologien von der Natur lernen lässt. Nicht nur Wollhandkrabben, sondern auch andere Tiere können dabei als Vorbild dienen, so beispielsweise Haie. Antonia Kesel hat schon vor vielen Jahren die Haut von Haien unter die Lupe genommen und sich dabei die Frage gestellt, warum diese im Gegensatz zu Schiffsrümpfen nicht von Organismen besiedelt wird. Die Antwort: Die Haihaut ist nicht etwa glatt, sondern mit mikroskopisch kleinen beweglichen Zähnchen aus Dentin, einem besonders harten Material, besetzt. Sie verschieben sich gegeneinander und verhindern, dass sich Meeresorganismen festsetzen. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis entwickelte die Bionik-Expertin mit ihren Mitarbeitern einen neuartigen Schutzanstrich für Rümpfe. Das silikonhaltige Antifouling zeichnet sich dadurch aus, dass es auch nach dem Austrocknen eine gewisse Elastizität behält und winzige Noppen aufweist.
Wie die Biologin erklärt, gibt es zwischen der Natur und technischen Geräten einen grundlegenden Unterschied. In der Technik habe ein Bauteil einen ganz bestimmten, einzelnen Zweck. Dies sei bei Lebewesen häufig nicht der Fall. „Krabben können Beine nutzen, um zu laufen, aber auch um zu klammern oder etwas zu greifen“, sagt Antonia Kesel. Außerdem herrsche in der Natur Überfluss, das heißt: Oft verfügen Lebewesen über so viele Bauteile der gleichen Art, dass ihre Aufgaben auch dann noch erfüllt werden können, wenn einzelne Bauteile ausfallen. Bionik-Experten konzentrieren sich in ihrer Arbeit auf bestimmte, für Technologien interessante Funktionen solcher Teile. Dazu ist es jedoch zunächst erforderlich, diese genau zu ermitteln. Den Ausgangspunkt bildet also biologische Grundlagenforschung.
Warum die Fachleute der Hochschule Bremen dafür zuletzt ausgerechnet Wollhandkrabben ausgewählt haben, erklärt Antonia Kesel so: Krebse gehörten zu den Tieren, die in Bereichen des Meeres zu finden seien, die stark von der Brandung beeinflusst würden. Ihnen könne es passieren, dass sie vom Untergrund abgelöst und fortgespült würden. Unter Umständen schwebten sie plötzlich kopfüber im Wasser und seien gezwungen, sich neu zu orientieren, um wieder sicher irgendwo auf einem Untergrund zu landen. „Ihre Situation ist mit der von Landeeinheiten auf fremden Himmelskörpern vergleichbar. Auch in deren Fall kommt es darauf an, dass sie richtig – und nicht etwa kopfüber – aufsetzen“, sagt die Wissenschaftlerin. Dass es beim Aufsetzen leicht zu Problemen kommen kann, hat nicht zuletzt das Landegerät „Philae“ gezeigt, das im November vergangenen Jahres von der europäischen Raumsonde „Rosetta“ beim Kometen 67P/Tschurjumow-Gerassimenko ausgesetzt worden war. Bei der Landung des Geräts auf dem Kometen lief nicht alles nach Plan. Schnell zeigte sich, dass nicht jedes der drei Beine Bodenkontakt hatte.
Nach den Worten von Antonia Kesel ist schon länger bekannt, wie es Wollhandkrabben schaffen, oben und unten zu unterscheiden. Wie bei Insekten, so werde der Körper auch bei ihnen von einem Außenskelett, einem sogenannten Exoskelett umschlossen, und darin befänden sich Blasen, in die zum Beispiel kleine Gesteinsteilchen eingelagert werden könnten. Diese dienten als Schwerekörperchen. Sie sind schwerer als Wasser und drücken in Richtung Erdmittelpunkt. Damit liefern sie eine Grundlage dafür, dass das Tier erkennt, wo oben und wo unten ist.
Hilfreiche Computersimulationen
Hat eine Wollhandkrabbe bemerkt, dass sie kopfüber im Wasser treibt, kommt es für sie darauf an, sich richtig zu drehen. Wie dies gelingt, haben Pia Bausch und Florian Hoffmann von der Hochschule Bremen bei Experimenten in einem Becken erforscht. Das Verhalten der kopfüber ausgesetzten, zu Boden sinkenden Krabben wurde dabei mithilfe von Hochgeschwindigkeitskameras festgehalten. Entscheidend sind nach den Erkenntnissen der Forscher die Bewegungen des hinteren Beinpaars. Ein Ruderschlag der Beine leite die Rotation ein, erläutert Antonia Kesel. Mit einer Gegenbewegung werde diese gestoppt, wenn das Tier die gewünschte Lage erreicht habe.
Solche Erkenntnisse sind eine Sache – sie technisch umzusetzen ist eine andere. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde der Vorgang zunächst unter Federführung der Maschinenbauerin Professor Susanna Labisch am Computer simuliert. Auch dabei drehte sich die Krabbe wie erhofft. Mehr Probleme ergaben sich jedoch, als das Verfahren mit einer künstlichen Krabbe getestet wurde. Diese drehte sich entweder gar nicht, oder ihre Drehung war nicht zu stoppen. Irgendetwas hätten sie und ihre Mitarbeiter offensichtlich noch nicht richtig verstanden, sagt Antonia Kesel. „Vielleicht werden wir am Ende auf einen ganz anderen Mechanismus setzen, um das Ziel, eine Technologie zum sicheren Aufsetzen von Geräten, zu erreichen.“
Von Interesse sind die Arbeiten an der Hochschule auch für andere Bremer Forschungseinrichtungen. So beschäftigen sich zum Beispiel Wissenschaftler des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz mit der Frage, wie Roboter in die Lage versetzt werden können, den Ozean, der unter einer dicken Eisdecke auf dem Jupitermond Europa vermutet wird, autonom zu erkunden. Das Zentrum für Marine Umweltwissenschaften (MARUM) an der Universität Bremen nutzt schon lange Unterwasserroboter. Auch für solche Einrichtungen könnten Erkenntnisse, wie sie die Bionik-Experten über die Fähigkeit von Tieren, sich kontrolliert zu drehen, gewinnen, am Ende interessant sein.
Bereits vor Jahren haben die Wissenschaftler der Hochschule Bremen in einem Projekt mit der Europäischen Weltraumagentur (ESA) untersucht, was sich von Schaben mit Blick auf die Entwicklung von Landegeräten lernen lassen könnte. Wenn Schaben aus größerer Höhe herunterfallen, überstehen sie den Sturz unbeschadet. Der Grund ist ihr Exoskelett, das sich beim Aufprall verformen kann. Die dabei aufgenommene Energie wird anschließend genutzt, um das Skelett wieder in seine ursprüngliche Form zu bringen. Nach den Worten von Antonia Kesel verformt sich das Skelett allerdings stärker, als es bei technischen Geräten ohne Schäden möglich wäre. Nützlich seien solche Forschungsarbeiten dennoch. Erkenntnisse über die Konstruktion von Exoskeletten und die Eigenschaften von Materialien könnten auch für andere Zwecke als die Raumfahrt verwendet werden. Die Biologin verweist in diesem Zusammenhang auf Brillenetuis, die dank ihrer Fähigkeit zur Verformung heil bleiben, wenn sie auf den Boden fallen. Solche Etuis ließen sich zum Beispiel aus Glas- oder Pflanzenfasern herstellen.
Nützliche Produkte nach dem Vorbild der Natur
Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Produkten, bei deren Entwicklung Vorbilder aus der Natur genutzt wurden. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist der Klettverschluss. Der Schweizer Ingenieur und Erfinder Georges de Mestral (1907 bis 1990) erkannte, dass Kletten mit Borsten besetzt sind, die wie kleine Haken wirken. Klettverschlüsse halten, weil sie aus zwei unterschiedlich aufgebauten Streifen bestehen. Einer weist zahlreiche Haken auf, der andere Schlingen.
Dass es heute zum Beispiel Dachziegel mit besonderen Oberflächen gibt, die sich selbst reinigen, hängt mit dem Wissen über den sogenannten Lotuseffekt zusammen. Blüten und Blätter von Lotuspflanzen sind deshalb stets makellos sauber, weil Regentropfen wie das Wasser von einer heißen Herdplatte abperlen und dabei auch Schmutz mit sich forttragen. Verantwortlich dafür sind die besonderen Oberflächenstrukturen, das heißt die vielen eng nebeneinander angeordneten winzigen Erhebungen, auf denen sich Wachse befinden.
Schon seit vielen Jahren werden sogenannte Ribletfolien genutzt, mit denen Flugzeuge beklebt werden können. Sie helfen, den Treibstoffverbrauch zu verringern. Abgeleitet wurde die Form der Folien von Schuppen mit einer besonderen Rillenstruktur, wie sie bei Haien zu finden ist.
Wie technische und natürliche Verfahren einander entsprechen können, zeigt sich auch beim Echolot. Echolote lassen sich zum Beispiel einsetzen, um den Meeresboden zu vermessen. Dabei werden Ultraschallsignale in Richtung Meeresboden geschickt, wo sie reflektiert werden. Das Echolot empfängt die zurückgestrahlten Signale und berechnet auf der Grundlage von deren Geschwindigkeit und Laufzeit, wie tief es an der entsprechenden Stelle ist.
Auch Fledermäuse nutzen Ultraschall, um sich ein Bild von ihrer Umgebung zu verschaffen. Die Säugetiere stoßen dazu kurze Schreie aus und empfangen dann das Echo. Auf diese Weise sind sie in der Lage, sich selbst bei völliger Dunkelheit zu orientieren und fliegende Insekten zu orten und zu jagen.