Niedersächsische Gemeinde Bothel: Die Angst vor dem Krebs

In Bothel erkranken auffällig viele Menschen an Krebs. Noch immer ist unklar, was das mit der Erdgasförderung in der niedersächsischen Gemeinde zu tun hat. Vom Umgang mit der Ungewissheit.
17.01.2019, 22:24 Uhr
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Bothel: Die Angst vor dem Krebs
Von Nico Schnurr

Manchmal sieht er den Mann noch vor sich sitzen. Ein junger Vater, keine 40 Jahre alt. Einen Tag zuvor hat er seine Tochter beerdigt, sie hatte Blutkrebs. Und nun hockt der Mann vor Dirk Eberle, auf einem der Sprechstundenstühle im Botheler Rathaus, und starrt den Bürgermeister ungläubig an.

Er will Antworten. Lauter krebskranke Kinder im Krankenhaus. Das könne doch kein Zufall sein. Was hat das mit den Türmen zu tun, die hier in den Himmel ragen? Diese eingezäunten Gebilde aus Tanks und Rohren, sind die schuld? Musste seine Tochter sterben, weil in der Gegend so viel Erdgas gefördert wird?

Dirk Eberle stockt. Der Mann will Antworten, aber er hat keine. Eberle weiß nicht, was er sagen soll. Er könnte jetzt ein paar Sätze druckreifen Amtssprech aufsagen, unverfängliches Bürgermeister-Blabla. Oder schnell irgendeine Lüge erfinden. Behaupten, dass er alles im Griff hat. Aber Eberle ahnt: Einem Vater, der gerade seine Tochter verloren hat, kann er kaum erzählen, dass alles gut ist.

Bothel, Erdgas-Epizentrum

Es ist 2016, und in der Samtgemeinde Bothel sind in den Jahren zuvor allein an Leukämie und Lymphomen doppelt so viele Männer erkrankt, wie statistisch zu erwarten gewesen wäre. Erklären kann Eberle das nicht, genauso wenig wie den Tod der Tochter. Also sagt er: „Ich weiß nicht, was hier los ist.“

Über zwei Jahre später sitzt Dirk Eberle, ein Mann mit tiefen Lachfalten, hoher Stirn und Dreitagebart, in seinem Büro und wiederholt, was er schon dem trauenden Vater gesagt hat. „Die Fragezeichen sind nicht weg.“

Im Dezember ist eine Studie erschienen, im Auftrag des niedersächsischen Gesundheitsministeriums. Sie bestätigt, was viele vermutet haben: In der Nähe von Erdgasförderstätten im Landkreis Rotenburg ist die Krebsrate hoch. Zu hoch. In den 14 anderen Landkreisen, die untersucht wurden, fallen die Werte weniger auf. Das Krebsrisiko ist also nicht grundsätzlich da höher, wo Erdgas gefördert wird, heißt es. Im Landkreis Rotenburg aber offenbar schon. Warum das so ist, lässt die Studie offen.

Wo Familien verschwinden

„Das kann einfach nicht so stehen bleiben“, sagt Eberle. „Es verschwinden ganze Familien, alle gestorben, einfach weg. Und wir wissen immer noch nicht, was die Menschen hier krank macht.“

Niedersachsen gilt als Erdgaskammer der Republik, etwa 95 Prozent der deutschen Produktionsmenge werden hier gefördert. Und im Landkreis Rotenburg liegt das Epizentrum. Flaches Land, Idylle zwischen knorrigen Eichen und Backsteinhäusern, tief darunter Deutschlands größte Erdgasreserven. Mehr als 60 Förderstellen, fast ein Drittel davon in Bothel, einer 8000-Seelen-Gemeinde östlich von Rotenburg.

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Seit langem fördert Exxon-Mobil Erdgas in der Region, auch per Fracking.

Ein Prinzip, bei dem ein chemischer Wasser-Steinchen-Mix unter Hochdruck in das Gasfeld gepumpt wird. Danach strömt nicht nur Gas aus dem Boden, auch hochgiftige Chemikalien steigen wieder auf, aus großer Tiefe. Quecksilber, Benzol, Dioxine, auch radioaktives Material.

„Das alles hat kaum jemanden gestört, bis das mit dem Krebs auffiel“, sagt Matthias Bantz. Der Rotenburger Umweltmediziner richtet seine kreisrunde Brille, dann beugt er sich über einen Stapel von Studien. Er wedelt jetzt mit Untersuchungen aus Kanada und den USA.

Fünf Prozent aller Bohrungen: undicht

„Je dichter Menschen an der Erdgasförderung wohnen, desto größer ist die Anzahl von Krebsfällen, klare Sache, statistisch längst bewiesen“, sagt Bantz. Er erzählt nun davon, wie mehr als zweihundert Ärzte im US-Bundessstaat New York den sofortigen Erdgas-Ausstieg gefordert hätten. „Das können doch unmöglich alles Spinner sein.“

Bantz hat auch eine Liste unterzeichnet, 2016 war das, wieder mehr als zweihundert Ärzte, diesmal an die niedersächsische Gesundheitsministerin. Die Forderung: endlich Aufklärung. Lange keine Antwort, dann im vergangenen Dezember das Ergebnis der Studie.

Ist er zufrieden? Bantz schüttelt den Kopf, dann verschwindet er wieder hinter Papier. Blättern durch den Studienberg. Er hätte da noch ein paar Zahlen aus den USA. Fünf Prozent aller Bohrungen: undicht. Nach 30 Jahren sogar die Hälfte. Er reibt die Handflächen hektisch aneinander, kaum auszuhalten diese Situation, sagt Bantz. „Das Wissen ist längst da, aber es passiert viel zu wenig.“

„Es geht um Leben und Tod“

Als sich Dirk Eberle ums Bürgermeisteramt bemüht, hat Bothel noch nicht den Beinamen „Krebs-Dorf“ angedichtet bekommen. Der Wahlkampf dreht sich um Schulen und Kitas, nicht um eine mögliche Gefahr aus der Tiefe. Dann häufen sich die Krebsfälle, in der Gemeinde tuscheln sie.

Einige Bürger gehen von Haus zu Haus, zählen durch, wer erkrankt ist. Ärzte werden aufmerksam. Und Eberle, ein Politikneuling, eigentlich Förster und in der Gegend bekannt, weil er sich mal gegen eine neue Eisenbahnstrecke auflehnte, hat in seiner kleinen Gemeinde nun ein großes Problem.

Er ist noch nicht lange im Amt, da sagt Eberle: „Es geht um Leben und Tod.“ Die Ursache für die vielen Krebsfälle zu finden, „das wird meine erste große Aufgabe sein“. Er hat sie noch immer nicht gemeistert. Aber kann man das überhaupt von ihm erwarten?

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„Die Politik ist eingeknickt“, sagt Andreas Rathjens, 66 Jahre alt, krebskrank. Der bullige Mann ist Landwirt in Groß Meckelsen, sein Leben lang, dann kommt die Diagnose, Hodgkin und Haut, sagt er. Klinikum Hamburg-Eppendorf, 232 Tage, Chemotherapie. Auf der Station trifft er einige Leute aus dem Landkreis. Merkwürdig, denkt er, dann erinnert er sich an die Bohrgrube, nicht weit von seinem Haus, vielleicht einige hundert Meter. Er glaubt: Das kann kein Zufall sein.

Rathjens ist gelernter Landwirt, kein Wissenschaftler, aber er will der Wahrheit näherkommen. Also pflanzt er Grünkohl, in unterschiedlichen Abständen zu den Bohrtürmen. Der Kohl, der direkt an einer Förderstelle wachsen soll, geht sofort ein. „Da waren Stoffe drin, die man sonst nur an der Tankstelle findet.“ Spätestens seitdem glaubt Rathjens: „Diese Sache mit dem Erdgas hat mich krank gemacht.“

„Menschen werden krank vor Angst“

Es ist seine Art, mit der Diagnose fertig zu werden, Flucht nach vorne, Kampf gegen den Großkonzern. „Ich gehe das aggressiv an“, sagt Rathjens. „Solange ich noch kann, werde ich die hier weiter nerven.“ Und die anderen, der Rest der Gemeinde? „Die Menschen sind wie gelähmt“, sagt er. „Die Ungewissheit macht vielen zu schaffen, die Menschen werden krank vor Angst.“

Manchmal fragen Bürger Dirk Eberle, ob er endlich mehr wisse. Aber der Bürgermeister weiß nicht mehr. „Das Unbehagen ist da, es sitzt irgendwo im Hinterkopf.“ Gerade läuft noch eine Untersuchung, eine nächste folgt. Abwarten, mal wieder.

Gewissheit? Vielleicht in Jahren

Solange gilt bei Eberle: „Eine Verteufelung der ganzen Industrie, dafür bin ich nicht zu haben.“ Aber er will die Ängste ernst nehmen. Deswegen klagt die Gemeinde nun gegen Exxon-Mobils Pläne, eine Anlage in Bothel zu bauen, auf der Reststoffe beseitigt werden.

„Solange nicht klar ist, wie gefährlich das ist, wollen wir eine solche Anlage hier nicht haben.“ Wann Gewissheit herrscht? Wahrscheinlich, sagt Eberle, werden noch zwei, drei Jahre vergehen.

Einmal hat sich Eberle gefragt, ob es richtig war, dem trauenden Vater in der Sprechstunde zu sagen, dass auch er keine Antworten hat. War das zu schonungslos? Er würde es wieder so machen. Es ist die Wahrheit, nach wie vor.

Den Text haben wir überarbeitet, da er nicht durchgängig den hohen journalistischen Anforderungen entsprach, die der WESER-KURIER an seine Inhalte stellt. Wir bedauern, dass er in der ursprünglichen Form erschienen ist, und bitten Sie die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen.“

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