
Frau Dr. Antje Richter-Kornweitz, es heißt, im niedersächsischen Vergleich sei das Armutsrisiko in Delmenhorst besonders groß. Lässt sich das mit konkreten Zahlen und Untersuchungen belegen? Kann man dies auch nach Altersgruppen differenzieren?
Richter-Kornweitz: Die Bundesagentur für Arbeit erstellt regelmäßig Statistiken über die Bezieher von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II, also Hartz-IV-Leistungen. Unter anderem wird damit Armut definiert. Solche Leistungen erhalten in Delmenhorst, Stand Juli 2019, 26,3 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren. Niedersachsenweit sind es lediglich 13,4 Prozent. Ein ähnliches Bild zeigt sich, wenn man Teilgruppen näher betrachtet. Bei Kindern unter drei Jahren liegt die Quote in Delmenhorst bei 28,1 Prozent, im Landesdurchschnitt bei 15 Prozent. Bei den Drei- bis Sechsjährigen steigt die Quote in Delmenhorst auf 29,4 Prozent weiter an und sinkt dann bei den Sechs- bis 15-Jährigen auf 26,6 Prozent ab. Hinzu kommt: Armut ist in der Regel nichts Vorübergehendes. Bei mehr als 54 Prozent der Sieben- bis 15-Jährigen im Land Niedersachsen dauerte der Hartz-IV-Bezug bereits drei Jahre und länger. Ähnlich hoch wie in Delmenhorst sind die Werte in Wilhelmshaven und Emden, noch höher im benachbarten Bundesland Bremen.
Wenn in der Fachdiskussion über Armut und Armutsrisiko gesprochen wird: Wie grenzen sich diese Begriffe voneinander ab? Stehen dabei materielle Gegebenheiten im Vordergrund?In Deutschland gilt jemand als armutsgefährdet, wenn er oder sie dauerhaft weniger als 60 Prozent des mittleren Nettomonatseinkommens zur Verfügung hat, das die Bürger hierzulande erzielen. In Niedersachsen sind von dieser sogenannten relativen Armut dauerhaft mehr als 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren betroffen.
Armut wird oft mit anderen Begriffen kombiniert, etwa seelische oder psychische Armut, Bildungsarmut und so weiter. Halten Sie solche Differenzierungen für sinnvoll beziehungsweise notwendig? Von welchem eventuell auch weit gefassten Armutsbegriff gehen Sie selbst aus?Ich halte mich beim Umgang mit Armut an den Lebenslagenansatz. Dabei geht es neben der materiellen Situation vor allem um die Chancen auf gute Gesundheit, gute Bildung und soziokulturelle Teilhabe. Die richtigen Stichworte sind hierbei Teilhabechancen und deren mögliche Verbesserung. Auf diese Weise erhält man ein genaueres Bild der tatsächlichen Situation der Menschen.
Manchmal wird behauptet: Armut in einer armen Gesellschaft sei kein Problem. Zeigen sich besondere Härten der Armut also vor allem in reichen Gesellschaften? Was wären solche Härten?Armut ist immer ein Problem, Stichworte sind da eingeschränkte Entwicklungschancen und fehlende Teilhabechancen. Sie äußert sich entsprechend. Im Übrigen werden beim Rückblick auf insgesamt ärmere Zeiten glückliche Momente leicht glorifiziert und Phänomene wie Kindersterblichkeit und Unterernährung ausgeblendet.
Gibt es zum Abbau von materieller Armut Konzepte, diese durch politische Entscheidungen zu verhindern? Wäre dazu mehr Umverteilung erforderlich?Da stellt sich zuerst die Frage: Was heißt Umverteilung eigentlich genau? Nun: Was wir dringend vermeiden müssen, sind Beschäftigungsverhältnisse, bei denen auch in Vollzeit nicht genug verdient wird, um zum Beispiel eine Familie mit zwei Kindern zu ernähren. Das Phänomen des „working poor“, des arm trotz Arbeit, gibt es immer noch. Nehmen Sie etwa Erzieher, Friseure oder Paketboten. Außerdem gibt es Menschen, die wollen ihre Unabhängigkeit bewahren, zum Beispiel auch kinderreiche Familien oder Alleinerziehende mit einem Einkommen an der Armutsgrenze. Da werden teils keine Leistungen in Anspruch genommen, keine Anträge gestellt. Armut spielt sich oft im Verborgenen ab.
Konkret zu Delmenhorst: Sie kennen die Bemühungen unterschiedlicher Akteure zur Armutsbekämpfung. Ist es richtig, dass dabei vor allem die Milderung negativer Folgen von Armut in Vordergrund steht?Dem Konzept Präventionskette folgend, werden Ansatzpunkte zur Prävention der Kinderarmut gesucht, die mit der wirtschaftlichen und sozialen Situation sowie den Möglichkeiten der Stadt vereinbar sind. Generell kann Armut allein auf kommunaler Ebene nicht abgeschafft werden. Doch Kommunen haben diverse Interventionsmöglichkeiten. Es kommt darauf an, diese zu nutzen. Wichtige Sektoren sind der Gesundheits- sowie der Bildungsbereich, also etwa die Kindertagesstätten und die Schulen.
In welchen Bereichen kann Delmenhorst besonders punkten, gibt es messbare positive Entwicklungen?Delmenhorst hat sich schon früh um Prävention bemüht. Einen Schwerpunkt legen die Verantwortlichen darauf, den Zugang zu bestehenden Unterstützungsangeboten zu ermöglichen. Früh und mit viel Geschick wurden Gruppen in den Blick genommen, die sonst nur schwer erreichbar sind. Was spürbar ist: In Delmenhorst wird nicht nur ein Strohfeuer entfacht, sondern es wird intensiv daran gearbeitet, betroffene Familien mit passenden Angeboten zu erreichen.
Andersherum: Sehen Sie Defizite oder vielleicht sogar Aufholbedarf?Eher nicht. Im Jahre 2020 werden 20 niedersächsische Kommunen mit 25 Projekten am Programm Präventionsketten beteiligt sein. Delmenhorst ist wieder mit einem Projekt dabei. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Da gibt es erst eine Interessenbekundung, dann muss ein schlüssiges Konzept vorgelegt werden, das von Fachkräften begutachtet wird. Erst dann kommt es zu einem Vertragsschluss, in dem die Rechte und Pflichten festgehalten sind. Präventionsketten sind keine Alibiveranstaltung. Und Delmenhorst ist gesichert bis Ende 2021 im Programm.
Welche Gruppen sind in Delmenhorst besonders von Armut gefährdet? Werden sie hinreichend durch Angebote der verschiedenen Akteure erreicht?Das ist eindeutig: Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Familien mit Migrationshintergrund.
Gibt es Armutsgruppen, die für Dritte nur schlecht oder gar nicht erreichbar sind?Grundsätzlich sind alle Menschen, die längere Zeit in Armut leben, schwer erreichbar. Sie fallen aus den üblichen sozialen Bezügen; individueller sozialer Rückzug spielt ebenfalls eine Rolle. Armut ist ja auch tabuisiert. Das persönliche soziale Netzwerk wird kleiner, weshalb es weniger Unterstützung, weniger Information und auch weniger Beziehungen gibt. Kinder sind über die Bildungsinstitutionen noch einfacher erreichbar als ältere Altersgruppen.
Hilfe zur Selbsthilfe ist da ein Schlüsselbegriff. Gelingt es hinreichend, durch staatliche oder gesellschaftliche Aktivitäten Menschen aus Armut zu führen? Oder entwickeln sich stabile „Randgruppen“ über Generationen hinweg?Nein, es gelingt nicht hinreichend, allerdings bundesweit nicht und nicht nur in Delmenhorst. Armut ist nach wie vor in einer relevanten Größenordnung vorhanden. Das Thema wurde viel zu lange verdrängt. Das ist der Ausgangspunkt und Hintergrund unseres Programms „Präventionskette Niedersachsen: Gesund aufwachsen für alle“.
Klappt das Zusammenwirken von Hilfsakteuren in Delmenhorst, gibt es noch Mängel oder Leerstellen?Delmenhorst ist auf dem Weg! Und damit hat Delmenhorst vielen Kommunen in Niedersachsen und im Bundesgebiet einiges voraus. Es gibt die Unterstützung durch einen politischen Beschluss und man bleibt kontinuierlich am Thema dran. Aber man ist natürlich noch nicht am Ziel. Präventionsketten aufzubauen, ist ein langfristiges Vorhaben, und Unterstützung durch weitere Akteure wird in diesen Prozessen immer gesucht. Abstimmung ist sehr wichtig; es kommt auch darauf an, Parallelstrukturen zu entdecken und schlüssigere Konzepte zu entwickeln. Von daher kann ich mich nur noch einmal wiederholen: In Delmenhorst sind die Akteure auf dem richtigen Weg.
Lassen Sie uns noch Einzelgruppen und ihre Förderung ansprechen. Schauen wir einmal auf die Gruppe der Schüler: Ist das Teilhabepaket womöglich zu bürokratisch? In welchem Umfang kommt dieses Angebot an? Sehen Sie effektivere Alternativen?Die Inanspruchnahme nach dem Bildungs- und Teilhabepaket ist laut den Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes flächendecken nicht besonders gut. Bundesweit werden 15 Prozent der Berechtigten erreicht, in Niedersachsen lediglich 11,7 Prozent. So gesehen ist die Quote von Delmenhorst mit 20,2 Prozent ganz ordentlich. Es ist aber mehr erreichbar. So erhalten in Schleswig-Holstein 46,6 Prozent der Berechtigten Leistungen, und in Verden an der Aller sogar 94,1 Prozent. Nötig ist ein flächendeckender Ausbau einer besseren Infrastruktur vor Ort, und zwar bundesweit, nicht nur in Delmenhorst. Man kann diese Aufgabe nicht allein jenen Kommunen aufbürden, die sowieso schon aufgrund einer höheren Problembelastung höhere Anforderungen bewältigen müssen – bei gleichzeitig knappen Budgets in Relation zu anderen. Außerdem ist ein unbürokratisches, nicht-stigmatisierendes Antragsverfahren, zum Beispiel beim Bildungs- und Teilhabepaket, erforderlich, um die Inanspruchnahme zu verbessern. Manche fordern einen Rechtsanspruch auf Teilhabe, der gesetzlich verankert werden sollte, um Kommunen bei der Konzipierung und Umsetzung von Maßnahmen zu unterstützen.
Reden wir zum Schluss über die Gesundheitsversorgung: Es heißt, Armut fördere im besonderen psychische Erkrankungen. Ist da etwas dran? Muss in diesem Sektor – stationär wie ambulant – noch etwas getan werden?Das habe ich so noch nicht gehört und teile diese Ansicht auch nicht. Armut hat gesundheitliche Folgen. Physisch wie psychisch. Durch ein Aufwachsen in Armut kommt es häufig zu einer sogenannten Belastungskarriere, die im späteren Alter gesundheitliche Folgen zeigt. Die Erkrankungen betreffen die Psyche, aber ebenso auch das Herz-Kreislauf- oder das Muskel-Skelett-System, wir reden über Diabetes und anderes.
Das Gespräch führte Helmuth Riewe.Antje Richter-Kornweitz ist Fachreferentin für „Soziale Lage und Gesundheit“ in der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen (LVG & AFS). Sie leitet das Programm „Präventionsketten Niedersachsen", das durch die Auridis-Stiftung gefördert wird. In Deutschland wächst fast jedes fünfte Kind unter 18 Jahren in Armut auf. Die Chancen auf Bildung, soziale Teilhabe und Gesundheit sind für arme Familien und deren Kinder geringer als für andere. Städte und Gemeinde bauen Präventionsketten auf, um alle Kinder zu unterstützen und ihnen ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen – und Delmenhorst taugt dabei durchaus als Vorbild fürs Land.
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