
Berne. Was für eine unglaubliche Geschichte. Da fällt der Autorin Ulrike Migdal im Rahmen ihrer Holocaust-Recherchen Anfang der 1980er-Jahre in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem ein nicht adressierter, sehr berührender „Brief an mein Kind“ in die Hände. Sie veröffentlicht ihn in ihrem nächsten Buch – und erhält einige Zeit darauf das Schreiben eines Hanuš Weber aus Stockholm: Ich bin das Kind; der Brief stammt von meiner Mutter, die in Auschwitz vergast wurde. Es ist der Beginn einer faszinierenden Entdeckungsreise in das Werk der Dichterin Ilse Weber, vorgestellt in der Kulturmühle Berne.
Hanuš Weber kann etliche Gedichte, Lieder und Texte seiner Mutter vorweisen, die diese im Lager Theresienstadt schrieb; sie blieben erhalten, weil ihr Mann sie in einem Koffer gesammelt, in einem „Grab“ eingemauert, nach dem Krieg geborgen und seinem Sohn übergeben hatte. Zudem fanden sich später viele Briefe von Ilse Weber auf einem Dachboden in Mittelengland. Ulrike Migdal hat diese schriftlichen Zeugnisse in ihrem Buch „Wann wohl das Leid ein Ende hat“ zusammengefasst und in einer Lesung im gemütlichen Ambiente der Berner Kulturmühle vorgestellt.
Schon als Teenager habe die im tschechischen Mährisch-Ostrau aufgewachsene, deutschsprachige Jüdin Ilse Weber Gedichte und Märchen verfasst. „Sie war eine weltoffene, begabte und aktive junge Frau mit intensivem Interesse an Politik und Kultur“, betonte Ulrike Migdal. Der Einmarsch der Nazis in der damaligen Tschechoslowakei brachte für die ansässigen Juden zunehmende Bedrängnisse. Weber schickt ihren ältesten Sohn zu Freunden nach England, was ihr das Herz zerreißt, gleichzeitig aber weiß sie ihn dort in Sicherheit.
Dutzende Briefe schreibt sie an ihn, die geprägt sind von anrührender mütterlicher Sorge um dessen Wohlergehen. Aber sie zeigen auch ihren präzisen analytischen Blick auf die zunehmend menschenunwürdiger werdende Situation der Juden in Tschechien, hin und her gerissen zwischen Hoffen und Bangen im Hinblick auf eine ungewisse Zukunft. Es sei ein seelisches Martyrium ohnegleichen, ein Leben unter Bestien, vermerkt sie, die sich dennoch uneingeschränkt zum Judentum bekennt.
Und betont geradezu mantrahaft in ihrem „Emigrantenlied“: „Alles wird gut … die Welt wird wieder zum Garten!“ Trotz aller Gehässigkeit, die sie von nichtjüdischer Seite erlebt, glaubt sie an die Möglichkeit einer Völkerversöhnung. Zunehmende Ungewissheit lässt zwischenzeitlich Suizidgedanken aufkommen – „alle Lebensziele sind zerstört... bin in den letzten zwei Jahren hundert Jahre älter geworden“, dennoch bleibt Weber die pointiert kommentierende Augenzeugin einer schlimmen Zeit. Etwa, wenn sie ihr Gedicht „Die Hungernden“ enden lässt mit den Worten: „Schmach über den, der die Ärmsten verfemt und sich der eigenen Sattheit nicht schämt.“
Eindrucksvolle Gitarrenklänge
Migdal liest die weberschen Texte, die in eingängiger, gradliniger Sprache und flüssigem Versmaß verfasst sind, mit klarer Stimme und großem Einfühlungsvermögen. Einige Lieder, deren Melodien ebenfalls von Ilse Weber stammen, hat sie mit ihrer Tochter Liv eingespielt. Mit Gitarre begleitet oder nur gesungen, vermitteln sie einen kleinen Eindruck dessen, was sich in Theresienstadt abgespielt haben mag, als Ilse Weber es nach ihrer Deportation als vordringliche Aufgabe sah, sich intensiv um die dortigen Kinder zu kümmern. Schließlich ist sie Ende 1944 singend mit den von ihr betreuten Kindern in die Gaskammer gegangen.
Als Ulrike Migdal ihre Lesung beendet hat, ist es minutenlang mucksmäuschenstill. Irgendwie scheint ein Applaus fehl am Platz zu sein. Und ja, nach Wahlen, bei denen ungeniert mit rechten Parolen auf Stimmenfang gegangen wurde, und am Tag der Deutschen Einheit, an dem vom Bundespräsidenten die „neuen Mauern“ in der Bevölkerung angemahnt werden, sind die vor mehr als einem Dreivierteljahrhundert entstandenen Aussagen einer beinahe vergessenen, scharfsinnig beobachtenden und sich aktiv einbringenden Dichterin zweifellos aktueller denn je.
Die weiteren Termine der Berner Bücherwochen:
Verleger Alfred Büngen (Geest-Verlag), erzählt, wie es ist, mit Kindern und Jugendlichen literarisch zu arbeiten (21. Oktober). Weitere Referenten und ihre Beiträge sind: Klaus Thöner, Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der Uni Oldenburg, mit „Protestantische Arbeitsethik und die Folgen“ (28. Oktober) und der Publizist Micha Brumlik mit „Martin Luther und die Juden“ (30. Oktober).
Für November und Dezember haben ihren Auftritt in der Berner Kulturmühle zugesagt: Jürgen Zimmer von der Polizei Brake zum Thema „Alltägliche Gewalt in Familien und Schulen“, Björn Thümler (diesmal als Historiker) mit der Frage: „Brauchen wir Islamverträge, um Muslime in Deutschland zu integrieren?“ Darüber hinaus ist der Journalist Karsten Krogmann zu Gast, der sich anhand des Falles des Patientenmörders Niels Högel mit dem Thema „Schuldig durch vertuschen“ befasst, und die Journalistin Ulrike Herrmann, für die „Kein Kapitalismus auch keine Lösung ist“ oder – wie es weiter heißt, was man von den Ökonomen Adam Smith, Karl Marx und John Maynard Keynes lernen kann.
Weitere Themen, die während der Bücherwochen in der Kulturmühle ebenfalls behandelt werden, sind: Rechtspopulismus (Thomas Praßler, Uni Bielefeld), Naturschutz im Lichte der Bibel (Rolf Adler, Evangelische Kirche Hannover), Ärzte ohne Grenzen (Gerhard Trabert, Mediziner, und Anita Zimmermann, Sozialpädagogin) und Christentum und Pazifismus (Lutz Krügener, Evangelische Kirche Hannover).
Ausgesprochen literarisch wird es dagegen am 22. Oktober im evangelischen Gemeindehaus in Ganspe, wenn die Schriftstellerin Jana Jürß zu einer Schreibwerkstatt für Anfänger und Fortgeschrittene einlädt und schließlich der Schriftsteller Thomas Lehr am 8. Dezember in der Kulturmühle Berne aus seinem Roman „Schlafende Sonne“ vorliest.
Als musikalischen Rahmen gibt es drei Konzerte, davon eine Konzertlesung, die in der Reihe „Berne bringt ...“ in der Warflether Kirche, Deichstraße 120 in Berne-Warfleth, stattfinden. Da haben sich die amerikanische Geigerin Ida Bieler und der in Australien geborene Pianist James Maddox für den 15. Oktober alle Violinosonaten von Bach, Brahms und Schumann vorgenommen. Darüber hinaus stehen am 19. November mit Janaceks Steichquartett Nr. 2 „Intime Briefe“, Schönbergs Quartett Nr. 1, Schostakowitschs Streichquartett Nr. 8 und Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ die „vier besten Streichquartette der Quartettliteratur“ auf dem Programm. Es spielt das junge Asasello-Quartett. Schließlich spielt die Pianistin Nina Tichman am 17. Dezember – und damit auch als musikalischen Schlusspunkt der sechsten Berner Bücherwochen – Beethovens letzte drei Sonaten. Dazu liest Schauspielerin Hannelore Hoger zwei Erzählungen von Robert Walser.
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Im Garten gibt es immer was zu tun. Unsere Redakteurin Patricia Brandt begleitet das Gartenjahr mit einem Augenzwinkern in ihrer Kolumne. Inzwischen ist die 100. WESER-KURIER-Gartenkolumnen erschienen. Sie schildert die Ängste und Sorgen des Hobbygärtners und nimmt Marotten auf die Schippe.
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