
Landkreis Osterholz. Das Knie. Was, wenn es gehalten hätte? Welche Entwicklung hätte die Laufbahn von Bernd Lütjen wohl genommen? „Ich war mir sicher, dass ich Profi werde“, sagt er, wohl wissend, dass es eigentlich vermessen ist, in dieser Angelegenheit sicher zu sein. Allein gut zu sein, reicht eben nicht aus. „Es gehört auch eine Menge Glück dazu“, erklärt er weiter. Und man muss es in den richtigen Momenten haben. Bei Bernd Lütjen kam an diesem 11. November 1984 eigentlich beides zusammen. Der für den FC Hambergen auflaufende Stürmer spielte gut und steuerte zum unvergesslichen 6:0-Erfolg über den SV Blau-Weiß Bornreihe drei Tore bei. Vor allem aber wurde er beobachtet, von einem Scout von Werder Bremen. Der tummelte sich unter den 350 Zuschauern und war so angetan von Lütjens Leistung, dass er ihn an den Osterdeich lotste.
Der damals 20-Jährige lief somit schon in der folgenden Saison für Werders Amateure auf, und es deutete einiges darauf hin, dass dieses Spiel im Hamberger Dress, im Nachhinein sein Spiel des Lebens, von einem anderen abgelöst werden könnte. Aber das ist nie geschehen.
Und dennoch: „Ein Derby ist ein Derby“, hebt Bernd Lütjen mit dem Abstand von mehr als 36 Jahren hervor. Es war ja auch allerhand los gewesen an jenem Sonntag. 350 war die offizielle Zuschauerzahl, gefühlt waren es aber viel mehr, meint Bernd Lütjen noch heute. Vielleicht hatten die Besucher geahnt, dass etwas besonderes in der Luft liegen würde, auch wenn im Vorfeld nicht viel dafür gesprochen hatte. Die Rollen waren schon damals klar verteilt gewesen. Zwar spielten der FC Hambergen und der SV Blau-Weiß Bornreihe gemeinsam in der Bezirksoberliga. Während die „Zebras“ aber vermehrt gegen den Abstieg kämpften, siedelten sich die „Moorteufel“ meistens im oberen Gefilde der Tabelle an. Auch behielten die Bornreiher in den direkten Vergleichen überwiegend die Oberhand, was den 6:0-Sieg der Hamberger umso besonderer macht. „Es hat an diesem Tag einfach alles gepasst“, erinnert sich Bernd Lütjen.
Der machte in dem Spiel, was er am besten konnte: Tore schießen. Es gab kaum eine Saison, in der der seit Dienstag 57-Jährige keine zweistellige Quote aufwies. Das 1:0 gegen Bornreihe, das schon in der elften Minute fiel, war dabei wohl sein wichtigstes von den dreien in diesem Derby. „Wenn man erst einmal in Führung geht, das 2:0 und 3:0 macht, dann läuft es fast von selbst“, erklärt Bernd Lütjen. Vor allem dann, wenn die besagten Treffer zum viel zitierten „psychologisch richtigen Zeitpunkt“ fallen. Nämlich kurz vor und kurz nach der Halbzeit. „Da haben wir gemerkt, dass wir Bornreihe schlagen können“, so Lütjen, der in der 48. Minute das zwischenzeitliche 3:0 markierte. Das Geheimnis dieses Kantersiegs lag aber auch darin, dass die Hamberger auch im sicheren Gefühl des Sieges nicht nachließen. „Wir haben bis zur 90. Minute Gas gegeben“, erinnert sich der Ex-Stürmer gerne zurück.
Und darüber hinaus. Natürlich musste dieser seltene Sieg gebührend gefeiert werden. Also ging es danach in den Dancing-Club nach Karlshöfen. Glücklicherweise hatte der seinen Haupttag immer sonntags, also zogen die Spieler samt Anhang dort hin. Das war ja auch das Besondere an der Mannschaft damals. „Unsere Frauen waren eigentlich immer dabei, auch wenn wir im Bus zu den Auswärtsspielen gefahren sind, waren sie dabei“, berichtet Lütjen. Eine tolle Zeit sei das damals gewesen. Eine Zeit, die bis heute einmal im Jahr aufblüht. Denn die Mannschaft trifft sich noch immer regelmäßig. „Dieses Jahr musste unser Treffen leider wegen Corona ausfallen. Aber es ist jetzt 35 Jahre her, und wir schaffen es tatsächlich regelmäßig, dass wir uns treffen. Letztes Mal waren 18 Leute da. Der Zusammenhalt ist bis heute geblieben. Eine ganz, ganz tolle Truppe. Das habe ich davor und danach nicht wieder so erlebt“, erzählt der 57-Jährige.
Dabei zog es Bernd Lütjen schnell wieder fort aus Hambergen. Wie gesagt: Ein Scout von Werder Bremen hatte sich das Derby angeschaut. Das hatte der Stürmer zwar erst im Nachhinein erfahren, aber vom Radar der Grün-Weißen war Bernd Lütjen nie verschwunden. Dazu muss man ein paar Jahre zurückdrehen. Ihm lag nämlich schon als-B-Junior ein Angebot vor, ins Werder-Internat aufgenommen zu werden. „Damals war ich aber noch nicht so weit, ich wollte auch zuerst eine Ausbildung machen“, erklärt Bernd Lütjen. Also blieb er bei seinem Heimatverein TSV Wallhöfen, wo er es in die Landesauswahl geschafft hatte. Das allein war schon aller Ehren wert. Bernd Lütjen war so ziemlich der einzige, der von einem Dorfverein kam. Die meisten Spieler kamen von Arminia Hannover, VfL Wolfsburg oder Hannover 96.
Aber Bernd Lütjen konnte sich behaupten – bis im Mai 1979 Folgenschweres passierte: Er riss sich den Außenmeniskus. „Der musste halb entfernt werden, damals gab es noch nicht diese minimalinvasiven Möglichkeiten wie heute. Die haben mir das Knie aufgeschnitten und ich musste drei Wochen stramm liegen“, erinnert er sich. Und er erinnert sich auch daran, wie sein Vater in dieser Zeit an sein Krankenbett kam und eine Einladung des Niedersächsischen Fußball-Verbandes mitbrachte. Vor dem Pokalfinale 1979 in Hannover zwischen Hertha BSC und Fortuna Düsseldorf sollten die B-Junioren-Landesauswahlen von Niedersachsen und Schleswig-Holstein gegeneinander antreten. Doch Bernd Lütjen musste passen. „Da habe ich natürlich schwer geschluckt. Vor 56 000 Zuschauern zu spielen, wäre einmalig gewesen“, erklärt er. Es war das erste und vermutlich entscheidende Mal, dass Bernd Lütjen von seinem Knie jäh ausgebremst wurde. „Eigentlich war das der Anfang vom Ende“, sagt Bernd Lütjen rückblickend. Das Knie war einfach schon (zu) sehr vorbelastet.
Aber der Traum vom Profi, den sich der junge Bernd Lütjen ausgemalt hatte, wurde Jahre später mit dem Wechsel zu Werders Amateuren wieder greifbar. Die Probleme mit dem Knie rissen indes nie ab. Erst wenige Monate vor seinem Wechsel ließ sich Bernd Lütjen ein weiteres Mal operieren. „Die alte Meniskusgeschichte“, erklärt er. Der Stürmer musste sich wieder heranarbeiten, im Training empfehlen. Und dann streifte er sich für das Vorbereitungsspiel gegen den TSV Ottersberg zum ersten Mal das Werder-Trikot über – und verletzte sich erneut. Das Knie musste im November 1985 ein drittes Mal operiert werden, auf die Beine kam Bernd Lütjen danach nicht mehr. Vor allem nicht auf dieser Ebene. „Ich bin nie wieder richtig rangekommen“, bestätigt Lütjen. Eigentlich galt dies auch für die Jahre danach beim FC Hambergen, dem er sich nach nur einer Saison bei Werders Amateuren wieder anschloss. Das Knie bereitete immer wieder Probleme, im September 1989 gab Bernd Lütjen schließlich sein letztes Comeback bei den „Zebras“. „Das Spiel war an einem Sonnabend. Ich bin eingewechselt worden und habe auch ein Tor geschossen“, weiß Lütjen noch genau.
Weshalb es aber sein letztes Spiel im Hamberger Jersey wurde, dafür war der nachfolgende Sonntag viel entscheidender. Da weilte Bernd Lütjen beruflich in Düsseldorf und – „so dämlich kann man gar nicht denken“ – verdrehte sich in der Hoteldusche das lädierte Knie. „Durch meine Kontakte zu Werder wurde mir noch ein Termin beim Mannschaftsarzt von Fortuna Düsseldorf verschafft. Der hat das punktiert. Aber danach war es natürlich vorbei“, so Lütjen. Gerade einmal 25 Jahre alt war er damals.
„Ich hatte lange daran zu knapsen, dass ich kein Fußball mehr spielen kann“, gibt Lütjen zu. Einmal juckte es ihm aber in den Füßen. Dieses eine Mal reiht sich indes in seine unfassbar anmutende Leidensgeschichte nahtlos ein. Bernd Lütjen war schon Bürgermeister von Hambergen, als er zur Einweihung nach dem Umbau des VSK-Stadions bei einem Einlagespiel zwischen Politik und Wirtschaft zusagte. „Als mich meine Frau die Tasche packen sah, fragte sie, in welchem Krankenhaus sie mich nach dem Spiel besuchen soll“, so Bernd Lütjen. Der sah sich allerdings gut gewappnet, indem er sich eigens für dieses Spiel Kniebandagen besorgt hatte. „Und dann setze ich zum Sprint an und denke mir: Was ist das für ein Idiot, der mir in so einem Pille-Palle-Spiel in die Knochen springt? Das war ein wahnsinniger Schmerz. Und dann stellte sich heraus: Die Achillessehne war gerissen. Da hatte ich vorher nie was mit“, erklärt Bernd Lütjen.
Es sollte einfach nicht sein. Die Frage, was möglich gewesen wäre, wenn das Knie gehalten hätte, stellt sich Bernd Lütjen inzwischen nicht mehr. Vielleicht wäre es was geworden mit der Profi-Karriere, vielleicht aber auch nicht. Gunnar Sauer, mit dem Bernd Lütjen in der niedersächsischen Landesauswahl spielte und einige Male zu den Lehrgängen nach Barsinghausen fuhr, wurde Werder-Profi, Deutscher Meister, Pokalsieger und holte den Europapokal der Pokalsieger, auch wenn er zuvor gar nicht zum engsten Kader der Landesauswahl gezählt hatte. „Natürlich denkt man sich dann, dass man das vielleicht auch geschafft hätte“, sagt Lütjen. Auf der anderen Seite hätte er wahrscheinlich seine Frau nicht kennengelernt, wäre mit Sicherheit nicht Bürgermeister von Hambergen und jetzt Landrat geworden, fügt er hinzu. „Man muss versuchen, das Beste draus zu machen. Das habe ich immer gemacht. Ich habe bestimmt einige Male schlucken müssen, dass es nicht geklappt hat. Immer, wenn ich mich herangekämpft hatte, war was mit dem Knie. Aber dafür habe ich an anderer Stelle aufgedreht“, ist Bernd Lütjen mit sich im Reinen.
Bernd Lütjen (57)
hat mit dem Fußballspielen beim TSV Wallhöfen begonnen und kickte noch zwei Jahre in der Herren-Mannschaft, die damals in der Kreisliga spielte. Danach schloss er sich dem Bezirksoberligisten FC Hambergen an, für den er zwei Jahre auflief, ehe er zu den Amateuren von Werder Bremen wechselte. Nach nur einem Vorbereitungsspiel verletzte er sich so schwer, dass er nach nur einer Saison zum FC Hambergen zurückkehrte. Der Stürmer, der zum 6:2-Pokalsieg gegen den TV Lilienthal einmal alles sechs Tore beigesteuert hatte, kämpfte allerdings immer mit erheblichen Knieproblemen und beendete seine Laufbahn bereits im Alter von 25 Jahren. Bernd Lütjen, der von 2001 bis 2013 Bürgermeister von Hambergen war und seitdem als Landrat dem Kreis Osterholz vorsteht, ist seit 30 Jahren mit seiner Frau Britta verheiratet und hat drei Kinder, Stefanie, Florian und Marieke.
Sonntag, 11. November 1984
Punktspiel der Bezirksoberliga
FC Hambergen - SV Blau-Weiß Bornreihe 6:0 (2:0)
FC Hambergen: Grimm; Denker, Reinhard Wohltmann, Barkowski (78. Holger Lütjen), Martin Wohltmann, Uwe Objartel , Lange (80. Jens Objartel), Jacobs, Jaskosch, Wrieden, Bernd Lütjen
SV Blau-Weiß Bornreihe: Stelljes; Horst Ringe, Dieckmann, Hülse, Dieter Ringe, Horning, Taube (46. Lüttich), Sievers (35. Wendelken), Neika, Böttjer, Gieschen
Tore: 1:0 Bernd Lütjen (11.), 2:0 Thomas Jacobs (45.), 3:0 Bernd Lütjen (48.), 4:0 Bernd Lütjen (75.), 5:0 Malte Jaskosch (76.), 6:0 Martin Wohltmann (86.)
Schiedsrichter: Bensch (Harsefeld)
Zuschauer: 350
Der bejubelte Aufstieg oder ein tränenreicher Abstieg. Ein unvergessener Sieg oder die bittere Niederlage in letzter Sekunde. In unserer Serie „Das Spiel meines Lebens“ erinnern sich Sportlerinnen und Sportler an den größten Moment ihrer Laufbahn – ganz egal, ob positiv oder negativ.
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