
Angesichts der wachsenden Schar konfessionsloser Kinder will Niedersachsen jetzt an allen 1700 Grundschulen des Landes „Werte und Normen“ als ordentliches Fach verbindlich einführen. „Damit möchten wir zukünftig Unterricht statt Betreuung anbieten“, sagte Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) in Hannover. Die Alternative zum normalen Religionsunterricht solle dafür sorgen, dass alle Mädchen und Jungen eine ethische Bildung erhielten. „Das ist eine Frage der Gleichbehandlung“, betonte der Ressortchef. Der Landeselternrat (LER) lobte das Vorhaben als „wichtige Orientierungshilfe“ gerade in Zeiten sich rasant wandelnder Wertvorstellungen. Auch die evangelischen Kirchen begrüßten Tonnes Ankündigung. Der Koalitionspartner CDU mahnte, dass der normale Religionsunterricht nicht leiden dürfe.
Vor zwei Jahren hatte die damalige rot-grüne Landesregierung eine Testphase an zehn Grundschulen gestartet. Mittlerweile bieten 40 Grundschulen im ganzen Land „Werte und Normen“ an, so auch in Lemwerder, Delmenhorst, Ganderkesee und Loxstedt. Insgesamt 40 Lehrer sind landesweit für die jeweils zwei Wochenstunden pro Klasse im Einsatz. Bis zum Schuljahr 2025/26 soll das neue Fach, das Lehrern gern liebevoll als „Religionsunterricht ohne den lieben Gott“ verspotten, stufenweise überall eingeführt werden. Dies gewährleiste einen für die Landeskasse schonenden Prozess mit einem moderaten Aufwuchs an neuen Lehrerstellen, versprach der Minister. Notwendig seien noch eine Änderung im Schulgesetz und die Erstellung von Lehrplänen. „Es ist noch viel zu tun; aber wir haben einen klaren Plan.“
Ab der fünften Klasse gibt es „Werte und Normen“ bereits flächendeckend als Schulfach neben dem klassischen Religionsunterricht, für alevitische, evangelische, katholische, jüdische, muslimische und orthodoxe Jugendliche. Dessen Besuch ist für alle Schüler, die an der normalen Glaubenskunde nicht teilnehmen möchten, verpflichtend. Einfach wie früher abmelden, sich zwei Freistunden verschaffen und vielleicht auch schlechte Noten vermeiden, ist dort schon lange nicht mehr möglich. An den Grundschulen nehmen rund zehn Prozent der Schüler an keinem Religionsunterricht teil; diese werden bislang während der zwei Stunden lediglich betreut.
Insgesamt gingen im vergangenen Schuljahr 276.730 Mädchen und Jungen in die Klassen eins bis vier. 109.376 davon waren evangelisch, 43.768 katholisch, 26.482 muslimisch, 18.037 gehörten anderen Religionen an. Mit 79.067 bildeten die konfessionslosen Kinder die zweitstärkste Gruppe. Ganz anders sieht die Teilnahme am Religionsunterricht aus: Den rein evangelischen besuchten 137.030 Schüler, also weit mehr, als es evangelische Kinder gab. Im rein katholischen Unterricht waren 23.034 Grundschüler, dagegen im konfessionell-kooperativen Unterricht 87.130. Islam-Unterricht besuchten lediglich 2708 Kinder. Der Grund hierfür ist laut Ministerium das mangelnde Angebot. Umgekehrt bedeuten diese Zahlen aber auch, dass viele Jungen und Mädchen einen Religionsunterricht besuchen, der nicht ihrer eigenen Konfession entspricht. Das sei erlaubt und ausdrücklich auch erwünscht, betonte der Minister.
Tonne beteuerte außerdem, dass mit „Werte und Normen“ nicht der normale Religionsunterricht geschwächt werden solle. Aber: „Wir brauchen ein gutes Gesamtangebot, um in der Schule Respekt, Vielfalt und Toleranz vermitteln zu können.“ Das Ziel sei es, die Schüler dazu zu bewegen, sich zu positionieren und in Glaubensfragen eine eigene Haltung anzunehmen. Der Landeselternrat, der schon seit Langem eine Alternative für konfessionslose Kinder fordert, sieht es ähnlich. „Ziel muss es sein, Kindern frühzeitig einen Zugang zu Wertvorstellungen und dem Verständnis der Gesellschaft zu ermöglichen“, erklärte der LER-Vorsitzende Mike Finke. Daher sei die verbindliche Einführung von „Werte und Normen“ an Grundschulen ein „wichtiger Meilenstein“.
Für die evangelische Landeskirche ist das neue Fach eine „konsequente Weiterentwicklung“ des bisherigen Angebots. „Es gibt eben auch Eltern, die sich eine ethische Erziehung ihres Kindes auf nichtreligiöser Grundlage wünschen“, sagte Oberlandeskirchenrätin Kerstin Gäfgen-Track. Man strebe dazu eine gute Kooperation an. Allerdings dürften die Ausbildungskapazitäten, Stunden und finanziellen Mittel für den Religionsunterricht nicht gekürzt werden. Auch Prälat Felix Bernard vom Katholischen Büro Niedersachsen nannte die Einführung von „Werte und Normen“ eine sinnvolle Ergänzung, warnte aber gleichzeitig vor Einschränkungen beim klassischen Religionsunterricht. „Fertig ausgebildete Lehrer sind schwer zu bekommen“, meinte CDU-Fraktionsvizechefin Mareike Wulf mit Blick auf Probleme bei der Unterrichtsversorgung. „Wenn, dann sollten diese zunächst den bisherigen Bedarf decken.“