
Wie in Worte fassen, was nicht in Worte gefasst werden kann? Wie eine Erklärung finden, die es nicht gibt? Sebastian Bührmann versucht es, er tastet sich vor, bricht ab, versucht es erneut. „Herr Högel“, sagt er, „Ihre Taten sind unbegreiflich, sie sind nicht zu begreifen, der menschliche Verstand kapituliert.“ Ratlosigkeit, nicht das erste Mal. Bei Bührmann und allen anderen im Gerichtssaal, möglicherweise auch bei Högel selbst.
Niemand kann erklären, was den Angeklagten dazu bewegt hat, Patienten totzuspritzen, sie zu ermorden. „Sie haben es Tag für Tag getan, Monat für Monat, Jahr für Jahr“, sagt der Vorsitzende Richter. So viele Menschen, die gestorben sind, mehr höchstwahrscheinlich als die Opfer, für deren Tod Högel sich vor Gericht verantworten muss. So viele Namen. Bührmann: „Ich kam mir vor wie ein Buchhalter des Todes.“
Niels Högel, der Serienmörder. Am Donnerstag ist er von der Schwurgerichtskammer des Oldenburger Landgerichts wegen Mordes in 85 Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Außerdem wurde eine besondere Schwere der Schuld festgestellt. „Ich hatte Ihnen das schon einmal gesagt“, erinnert Bührmann den Angeklagten, „lebenslang kann ein Leben lang bedeuten.“ Vorhersagen lässt es sich nicht, heißt das, nach menschlichem Ermessen dürfte Högel das Gefängnis aber nicht mehr verlassen.
Am letzten Verhandlungstag ist der Gerichtssaal gesteckt voll. Alle sind noch mal gekommen: 120 Zuhörer, 80 Journalisten aus der ganzen Republik, darunter etliche Fernsehteams, die Staatsanwälte, Verteidiger und Nebenkläger. Alle da beim Abschluss eines Prozesses, der in die Justizgeschichte eingehen wird. Nie zuvor ist in Deutschland jemand wegen so vieler Morde angeklagt worden, es waren 100 Fälle. 15 davon enden für den ehemaligen Krankenpfleger mit einem Freispruch, weil ihm die Taten nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden können.
Bührmann berichtet von den vielen Problemen, die das Gericht bei der Wahrheitsfindung hatte: „Normalerweise weiß man nach einer Hauptverhandlung, was passiert ist. Im Idealfall, warum es passiert ist. Hier aber nicht.“ Er nennt die Gründe: Eine zögerliche Staatsanwaltschaft, die Jahre brauchte, um die volle Dimension des Falles zu erfassen. Beweise, die in der Zwischenzeit vernichtet waren. Zeugen, die sich nicht erinnern konnten. Andere Zeugen, die sich nicht erinnern wollten. Schwierig. „Dass wir deshalb einen Teil des Nebels nicht beseitigen konnten, erfüllt uns mit einer gewissen Trauer“, sagt der Richter. Für die Angehörigen müsse das enttäuschend sein. Die Möglichkeiten des Gerichts seien aber beschränkt.
„Unbegreiflich“, wieder wählt er dieses Wort. Für Bührmann ist es die Überschrift. „Letztendlich hat diese Unbegreiflichkeit Ihre Taten erst möglich gemacht“, richtet er an den Angeklagten. Högel hört zu und sitzt so unbewegt da, wie er es während des gesamten Verfahrens getan hat. „Keiner konnte doch glauben, dass so etwas passiert, dass jemand auf der Station Menschen tötet“, so der Richter weiter. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Und doch war es so.
Die Kollegen von damals mussten aussagen, sie taten es nicht gern. Eine Belastung vor dieser Kulisse und bei solchen Vorwürfen. Bührmann hatte Verständnis, in seiner Urteilsbegründung hebt er Zeugen heraus, die sich vor Gericht besonders bemüht haben, trotz der langen Zeit, die vergangen ist. Die Taten geschahen in den Jahren 2000 bis 2005, zunächst im Klinikum Oldenburg, dann im Klinikum Delmenhorst. „Es gab aber auch andere Zeugen“, sagt der Richter. Er schlägt ein Kapitel auf, das in späteren Gerichtsverfahren eine Rolle spielen wird, wenn sich Klinikmitarbeiter verantworten müssen.
Bührmann spricht von Unwillen und Vertuschung, insbesondere bei den Zeugen aus Oldenburg. Ihre Aussagen seien merkwürdig uniform gewesen und reduziert. Noch dünner und einsilbiger, wenn die Sprache auf Högel kam. Es sei der Eindruck entstanden, dass die Klinik ihren Mitarbeitern einen Maulkorb umgehängt hat. „Wir haben natürlich nicht erwartet, dass sich die Zeugen detailliert an den Tag X oder Y vor 14 Jahren erinnern“, sagt der Richter, „aber dass sie so wenig sagen, war verwunderlich.“
Dann nimmt er sich einen Mann vor, nennt ihn mit Namen: Dirk Tenzer, Geschäftsführer im Klinikum Oldenburg. „Der hatte hier einen unglücklichen Auftritt.“ Bührmann drückt es gelinde aus. Tenzer hatte Ende 2014 seine Mitarbeiter zu Högel befragt und die Antworten protokollieren lassen. Die Unterlagen gab er erst zwei Jahre später an die Staatsanwaltschaft weiter. Der gleiche Ablauf bei einer Strichliste, die erfasst, wie viele Todesfälle es in den Schichten von Högel gab – deutlich mehr als sonst auf der Station. Auch dieses Dokument hatte Tenzer zunächst zurückgehalten. „Mit der Begründung, die Relevanz der Liste nicht erkannt zu haben“, erklärt Bührmann. Alles Umstände, fügt er an, die die Aufklärung erschwerten.
Ein Faktor kommt noch dazu. „Das Schwierigste überhaupt“, so der Richter. Högel, seine Aussagen. Lügen oft, aber so vorgetragen, dass sie glaubhaft wirkten. Der Mann kann Menschen ins Bockshorn jagen. Sie halten ihn für authentisch, er ist es aber nicht. Bührmann führt als Beispiel den Prozess von 2015 an, als Högel das erste Mal zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Damals behauptete der Angeklagte steif und fest, nur in Delmenhorst, nicht aber in Oldenburg gemordet zu haben.
Bührmann versucht es an diesem Tag zuletzt mit einer Rechnung, um zu begreifen, was Högel getan hat. „In den USA würden Sie für jede einzelne Tat verurteilt werden, 85 mal 15 Jahre, 1275 Jahre Haft.“ So lang kann lebenslang nicht werden.