
In der Nacht hat es geschneit. Nicht viel, aber auf die Fichten rechts und links der Straße hat sich eine neue weiße Schicht gelegt. Gnädig verdeckt sie, dass die meisten Bäume im Oberharz schwer krank oder schon abgestorben sind. Doch dann fällt der Blick auf einen Hang mit riesigen Freiflächen, auf denen die Stürme, Dürre und Hitze der vergangenen Jahre sowie mehrere Generationen von Borkenkäfern die Stämme ganz umgeworfen haben.
Die Bundesstraße 242 zwischen Braunlage und Clausthal-Zellerfeld ist an diesem Morgen schon früh geräumt worden und gut befahrbar. Auf dem Parkplatz Stieglitzecke gibt es kein Problem, das Auto abzustellen. Nur ein gutes Dutzend Fahrzeuge verteilt sich auf dem Areal. Göttingen, Northeim, Goslar – die Kennzeichen lassen Tagesausflügler aus der näheren Umgebung vermuten, die sich früh auf den Weg gemacht haben.
Die beliebte Skilanglauf-Loipe „Auf dem Acker“, die am Parkplatz beginnt, zum rustikalen Gasthaus Hanskühnenburg führt und auf der parallelen Ackerstraße zurück verläuft, ist nicht gespurt. Also besser zu Fuß weiter. „Touristenmassen“, die über Neujahr und am ersten Januarwochenende in den Harz einfielen, sind hier nicht zu entdecken. In der ersten halben Stunde bekommen wir gerade mal zwei Wandersleute zu Gesicht. „Ist das nicht herrlich?“, fragt einer und antwortet gleich selbst: „Wunderbar, diese Ruhe und die verschneite Landschaft. Wenn jetzt noch die Sonne scheinen würde, wäre es ein Traum.“
Auch auf dem Wanderweg Rehberger Graben, der die historische Talsperre Oderteich mit der Tagungsstätte Haus Sonnenberg bei St. Andreasberg verbindet, ist nicht viel los. Nur ein paar Spaziergänger und zwei Joggerinnen sind hier unterwegs. Und ein Radfahrer, der auf einer Bank an der Jugendherberge Jordanshöhe rastet. Sein mit Spikes ausgerüstetes E-Bike hat er in einem Schneehaufen geparkt. Ski-Wahnsinn? Verkehrs-Chaos? Ja, davon habe er auch gelesen, sagt der Radler. „Aber heute jedenfalls nicht, und hier schon gar nicht.“
Der Kontrast zu den teils chaotischen Zuständen vor zwei Wochen ist groß: Damals gab es an den touristischen Hotspots wie Torfhaus und Braunlage kilometerlange Staus, gesperrte Straßen und Parkplätze, genervte Autofahrer, Gedränge an den Rodelbahnen und vor den wenigen Buden, die noch Kaffee to go und Bratwürste verkaufen durften.
„Bleibt zu Hause!“ Nach dramatischen Appellen von Kommunalpolitikern, Polizei und Tourismusverband ging es schon am vergangenen Wochenende deutlich entspannter zu. Selbst am Sonntag, bei Sonnenschein und blauem Himmel, musste kein Fahrzeug abgeschleppt werden. „Die Gäste gingen weniger auf die üblichen Hotspots“, freute sich Frank-Michael Kruckow, Leiter des Fachbereichs Ordnung beim Kreis Goslar.
Das seit zwei Wochen andauernde Winterwetter trifft eine Branche im Umbruch. Noch zu Beginn der 2000er-Jahre bedeckte im Harz über Monate eine geschlossene Schneedecke Berge und Täler. Nur selten stiegen die Temperaturen in diesem Zeitraum über minus fünf Grad. Ski und Rodel gut, hieß es von November bis in den April.
Doch zuletzt fielen die Winter immer häufiger aus: Kein strenger Frost, kaum Schnee, allenfalls der Brocken-Gipfel war mal längere Zeit in Weiß gehüllt – auf dem höchsten Berg im Harz ist Skilaufen allerdings untersagt. Auch auf den Hängen des Wurmbergs bei Braunlage, mit 971 Metern zweithöchster Berg im Harz, fielen in den vergangenen Jahren erst sehr spät die ersten Flocken. Zumindest dort war für einige Wochen Skifahren trotzdem möglich.
Weil der Wintertourismus, über Jahrzehnte Säule des Geschäfts, wegen des Klimawandels zusammenbricht, setzte bei Fremdenverkehrsstrategen ein Umdenken ein: Natur und Kultur werden mehr beworben. Der Harzklub, die Dachorganisation von Wander- und Brauchtumsvereinen, hat begonnen, Wanderwege übersichtlicher zu gestalten. Das Angebot soll für Gäste überschaubarer und das Wandern in dem Mittelgebirge attraktiver werden. Zudem wurden neben Klassikern wie dem „Harzer-Hexen-Stieg“ und dem „Goetheweg zum Brocken“ neue Themenwanderwege erschlossen. Der kulturhistorische „Steinway-Trail“ beispielsweise, der über 15 Kilometer von Wolfshagen nach Seesen führt und dem aus der Region stammenden legendären Klavierbauer William Steinway ein Zeichen setzt.
Kultur satt, nämlich mehr als 50 Konzerte, Führungen, Feste und andere Veranstaltungen gab es beim „Harzer Klostersommer“ 2019. Das Krimifestival „Mordsharz“ ging in demselben Jahr mit einem guten Dutzend Lesungen, die teils in Bergwerken oder an anderen „gruseligen“ Orten stattfanden, bereits in die siebte Saison. Und 2019/20 lockte der „Harzer Kulturwinter“ mit Theater, Konzerten und Kerzenscheinführungen in Klöster und andere alte Gemäuer. In diesem Jahr allerdings fielen die meisten Events wegen der Corona-Pandemie aus.
Selbst die Klimakrise soll den Fremdenverkehr beleben. Beim letzten Harzer Tourismustag wurde die Kampagne „Der Wald ruft!“ vorgestellt. Statt Urlaubern den Zustand der durch Stürme und Borkenkäfer stark geschädigten Wälder zu verschweigen, sollen Harz-Reisende im Internet, mit Flyern und in Broschüren darauf vorbereitet werden, welcher Anblick sie erwartet.
„Der Wald im Harz ist gar nicht so tot, wie er aussieht“, sagt Friedhart Knolle, Sprecher des Nationalparks Harz. Die abgestorbenen Fichten seien nur eine Zwischenstation auf dem Weg zu einer neuen Wildnis. Wo Leben vergehe, entstehe Platz für Neues. In der Kernzone des Nationalparks, die etwa 60 Prozent der Fläche des knapp 250 Quadratkilometer großen Schutzgebietes ausmacht, kann sich die Natur seit einigen Jahren frei entwickeln. Ehemalige Wirtschaftswälder dürfen wieder zu wildem Naturwald werden.
Was vorerst bleibt, ist der hässliche Anblick. Daher gibt es auch Kritik an der Waldpolitik der Nationalparkverwaltung und ihrem Motto „Natur Natur sein lassen“. Allerdings haben sich laut Knolle die Widerstände „reduziert – vor allem seit klar ist, dass sich so Geld verdienen lässt“.