
Die Bilder von den Konzentrationslagern der Nazis kennen sie aus dem Geschichtsunterricht oder aus dem Fernsehen, aber dass das Grauen der nationalsozialistischen Diktatur so nah an ihren Wohnorten zuschlug, „das wissen viele Jugendliche nicht“, sagt Lars Hellwinkel. Er ist Lehrer an der Gedenkstätte Lager Sandbostel.
Rund 60 Schülerinnen und Schüler besuchen täglich das ehemalige Kriegsgefangenenlager im Landkreis Rotenburg. „Vielen von ihnen ist dieser Ort völlig unbekannt“, berichtet der Gedenkstättenpädagoge. In den meisten Familien ist das, was in Sandbostel passierte, kein Thema.
„Ich wusste gar nicht, dass hier so etwas war“, ist ein Satz, den der Lehrer bei seinen Führungen übers Gelände immer wieder hört. Für manche ist der erste Besuch der Gedenkstätte aber auch Anstoß, sich tiefer mit dem Thema zu befassen. 313.000 Menschen aus 55 Nationen wurden im Stammlager B im zehnten Wehrkreis, kurz Stalag XB, wie das NS-Lager in Sandbostel offiziell hieß, interniert und als Zwangsarbeiter missbraucht.
Eine große Betroffenheit auf dem Friedhof
Hunderte von ihnen starben noch nach der Befreiung an den Folgen von Hunger, Typhus und anderen Krankheiten. Viele Worte verliert der Lehrer zu Beginn seiner Führungen nicht. Er lässt den Ort für sich sprechen. Speziell die Kriegsgräberstätte. Hierhin führt Lars Hellwinkel die jungen Besucher immer zuerst.
„Wir wollen Fragen aufwerfen“, sagt der Pädagoge. Das schafft allein die Zahl von 10.000 Toten, die hier begraben sind. „Auf dem Friedhof spürt man schon eine große Betroffenheit.“ Lars Hellwinkel kennt die staunenden Blicke. „Ich habe gar nicht gewusst, dass hier ein Ort ist, wo Tausende sowjetische Soldaten liegen“, sagen ihm die Mädchen und Jungen oft.
Und dann wollen sie mehr über das Schicksal der Toten wissen. Dann kommen die Fragen: „Wieso ist man mit den russischen Soldaten so umgegangen?“ In der menschenverachtenden Hierarchie des Lagers hatten die sowjetischen Gefangenen ihren Platz am untersten Rand. Die Genfer Konventionen über den Umgang mit Kriegsgefangenen fand für sie keine Anwendung.
Geschichte wird greifbar
Nach und nach lösen sie die Fragen dann später in der Gedenkstätte auf. „Unser großes Plus ist, dass Geschichte hier so greifbar ist“, sagt Lars Hellwinkel. Die Gefangenenbaracken sind erhalten und reihen sich bis zum Horizont. „Ist das wirklich noch aus dieser Zeit?“, fragen die Schüler und erspüren die Enge der Räume.
Sie erfahren, dass die SS im April 1945 zusätzlich etwa 9500 Häftlinge aus dem Hauptlager und aus Außenlagern des Konzentrationslagers Neuengamme nach Sandbostel deportierte. „Etwa 3000 von ihnen starben an Seuchen, an Erschöpfung oder durch Gewalttaten der Wachmannschaften“, erklärt Lars Hellwinkel, während die Augen der Schüler ein greifbares Bild der Erinnerung suchen – und es nicht finden.
Anstelle des ehemaligen Auffanglagers für die KZ-Häftlinge erstreckt sich jetzt ein großes Feld. Hier ist über die Geschichte Mais gewachsen. Die Arbeit der Gedenkstätte trägt Früchte, ist der Pädagoge überzeugt. „Wir stoßen in der Bildungsarbeit etwas an, um aus der Geschichte zu lernen. Wenn die Schüler wieder weggehen, sagen sie: „Toll, dass wir hier waren.“
Zentrale Aufgabe war es, Arbeitskräfte bereitzustellen
Lars Hellwinkel weiß, dass der Besuch nachwirkt. „Die Schüler haben gesehen, dass es für den Vernichtungskrieg und den Rassismus in ihrer Umgebung einen Ort gab, der bis vor ihre Haustür reichte.“ Zentrale Aufgabe des Kriegsgefangenenlagers war es, Arbeitskräfte bereitzustellen. „Bisher sind über 1100 Arbeitskommandos im gesamten Elbe-Weser-Dreieck bekannt.“
Aus Sandbostel zurück, würden Schüler ihre Großeltern nach Kriegsgefangenen auf den Höfen fragen. Manche fangen an, über den Ort, der Jahrzehnte lang kein Thema war, zu recherchieren und ihre Ergebnisse in der Schule auszustellen. Und Manche kommen auch wieder.
Wie die gut 100 Abgangsschüler der IGS Osterholz-Scharmbeck, die kurz vor den Ferien zwei Tage in der Gedenkstätte Lager Sandbostel verbrachten, um hier aufzuräumen. Sie haben zu Besen und Schaufel gegriffen, um aus Baracken, die zwischenzeitlich privat genutzt wurden, jede Menge Schutt nach draußen zu schaffen. Nun werden daraus begehbare Ruinen.
Von der Praktikantin zur freien Mitarbeiterin
„Die Besucher sollen in die Räume hineingehen und die Raumstruktur nachvollziehen können“, sagt Lars Hellwinkel. Solche Aufräumaktionen gibt es zwar immer mal wieder auf dem Gelände, doch mit über zweihundert fleißigen Händen konnten die Mitarbeiter nie rechnen. „Meistens kommen zwischen zehn und zwanzig ehrenamtliche Helfer.“
Besonders erfreut ist der Pädagoge darüber, dass die Schüler ihre Hilfe von sich aus angeboten haben. Sie kannten die Gedenkstätte schon vom Namensziegel-Projekt. Wie die 21-jährige Nele Eilers aus Bremervörde. Die Studentin hatte als Schülerin mitgeholfen, die Namen der toten russischen Soldaten in Ziegel einzuritzen, „damit sie nicht mehr namenlos im Massengrab liegen“. Später absolvierte Nele Eilers ein Praktikum in die Gedenkstätte, dann wirkte sie dort lange als Ehrenamtliche mit, „und jetzt bin ich freie Mitarbeiterin“.