
Peter E. ist gerade 60 Jahre alt geworden, als er beschließt, das Leben ruhiger anzugehen. Er verpachtet seine Konditorei, kauft einen Hund, im Ruhestand ist Zeit für Spaziergänge, denkt er. Wenige Tage später liegt Peter E. in einem Rettungswagen, neben ihm bangt seine Frau. Die Ärzte vermuten einen Schlaganfall. Im Klinikum Delmenhorst geben sie Entwarnung: Eine Nacht auf der Intensivstation genügt.
Die Frau von Peter E. will die Nacht bei ihrem Mann verbringen. Der Pfleger winkt ab, keine Sorge, der Patient ist gut aufgehoben. Er kann die Frau überzeugen, irgendwie. Sie verlässt die Klinik mit einem mulmigen Gefühl. Peter E. drückt ihre Hand ganz fest, die Frau glaubt, Angst in den Augen ihres Mannes zu lesen. Dann geht sie, es ist 22 Uhr. Etwa eine Stunde später spritzt der Pfleger, sein Name ist Niels Högel, dem Patienten zwei Ampullen des Herzmittels Gilurytmal. Um 2.07 Uhr ist Peter E. tot. Seit dieser Nacht im August 2003 wird Frau E. nicht mehr glücklich.
Freitag, 22. Verhandlungstag im Verfahren gegen Niels Högel. Am Vortag hat die Staatsanwaltschaft dem ehemaligen Krankenpfleger in ihrem Plädoyer vorgeworfen, 97 Patienten getötet zu haben. „Das sind Zahlen, die außerhalb jeder Vorstellung liegen“, sagt Ulrike Hundt-Neumann, „es besteht die Gefahr, dass wir die Schicksale vergessen, die Familien dahinter.“ Die Anwältin vertritt die Witwe von Peter E. vor Gericht. In ihrem Schlusswort geht es weniger um Högels Tat, eher um das, was sie für die Angehörigen bedeutet. Dass Frau E. keine Ruhe mehr findet, seitdem sie weiß, Niels Högel könnte ihren Mann umgebracht haben.
Die Anwältin spricht kaum von einer Strafe für den Angeklagten, wie es in diesem ganzen Prozess nie wirklich um eine Strafe gegangen ist. Högel ist wegen fünf weiterer Taten schon 2015 zu lebenslanger Haft bei besonderer Schwere der Schuld verurteilt worden – mehr geht nicht. Es geht um etwas anderes. Ulrike Hundt-Neumann sagt, sie will Peter E. und seiner Familie ein Gesicht geben.
Eigentlich ist ein Strafprozess eine ziemlich nüchterne Angelegenheit. Die Sprache klingt unterkühlt und technisch. Morde mit Medikamenten werden zu Manipulationen, Menschen heißen Fälle. Am 21. Verhandlungstag will Anwältin Gaby Lübben etwas geraderücken. In ihrem Schlusswort erinnert sie daran, dass diese Fälle Bud-Spencer-Filme liebten, Imker waren, Fans des Fußballklubs Galatasaray Istanbul. Dass sie Menschen waren, 34 bis 96 Jahre alt, deren Pläne für die nächste Frankreich-Reise oder die Goldene Hochzeit unerfüllt blieben. Die manchmal Familien hinterließen, in denen Menschen nicht weiterleben wollten mit der Nachricht, ihr Vater oder ihre Schwester könnte von Högel ermordet worden sein. Lübben schert sich in ihrem Schlusswort nicht um juristische Formalitäten. Sie sagt: „Der Mittelpunkt sind die Menschen hinter den Anklagepunkten.“
Einmal erzählt der Mörder von seinen Träumen. Damals behauptet Högel, er werde nachts von den Seelen der Verstorbenen heimgesucht, er könne ihnen bloß keine Gesichter zuordnen. Gaby Lübben will das ändern. Sie will ihn zwingen, sich mit den Toten zu beschäftigen. Die Anwältin, die einen Großteil der Nebenkläger vertritt, erklärt nicht mal mehr, warum sie in zwei Punkten anderer Meinung ist als die Staatsanwaltschaft. Sie bedient nun lieber den Laptop vor sich und wirft Bilder ans Kopfende der Weser-Ems-Halle. Högel stützt sein Kinn auf die Handinnenflächen und blickt hoch. Er sieht, wie Fotos der Opfer über die Leinwände flimmern. Der Angeklagte regt sich nicht. Im Saal herrscht absolute Stille, als Lübben zu erzählen beginnt, wer die Menschen waren, die nun von ihren Passbildern und Familienfotos in den Saal lächeln.
Da ist Than Mai P., 73 Jahre alt. Er ist mit seiner Frau von Vietnam nach Deutschland gereist, um seine Tochter zu besuchen, zehn Jahre hatte er sie nicht gesehen. Er bekommt damals plötzlich Herzbeschwerden. Die Tochter überzeugt ihn, ins Krankenhaus zu fahren. Dort fühlt sich Than Mai P. unwohl. Er versteht die Sprache nicht, alles ist fremd. In der Nacht auf den 8. August 2001 spritzt Högel ihm eine Überdosis Sotalex.
Da ist Fredo F., 69 Jahre alt. Im Krankenhaus hat er noch zu seiner Tochter bei der Verabschiedung gesagt: Denk an den Lottoschein. Sie denkt daran, doch das Ergebnis erfährt ihr Vater nicht mehr. Am 24. Oktober 2003 spritzt Högel ihm eine Überdosis Gilurytmal.
Da ist Heinrich H., 68 Jahre alt. Er hat der Geburt seines Enkels entgegengefiebert. Der wird an dem Tag geboren, als sein Großvater stirbt. Es ist der 8. Dezember 2000, und Högel spritzt Heinrich H. eine Überdosis Lidocain.
Högel sitzt noch immer regungslos da, und im Saal fließen Tränen. Manche halten ihre Hände vors Gesicht. Auch Gaby Lübben ist ergriffen, ihre Stimme zittert und bricht mehrfach. Die Anwältin spricht schon eine knappe Stunde, als sie sich an den Angeklagten wendet. „Herr Högel“, sagt Lübben, „ich hoffe, dass Sie die Bilder dieser Menschen niemals vergessen werden.“
Selbst wenn er weiter nach Aufmerksamkeit suchen und Revision gegen das Urteil einlegen sollte, selbst wenn das Oldenburger Staatstheater die größte Mordserie der deutschen Nachkriegsgeschichte auf die Bühne bringen sollte, „selbst dann“, sagt Lübben, „selbst dann kann ich Ihnen versichern: Die Toten werden nunmehr Ruhe finden.“ Auch die Angehörigen würden das Erlebte irgendwann verarbeiten. „Nur Sie, Herr Högel, werden hinter verschlossenen Türen von toten Seelen verfolgt alt werden. Und Ihren Namen, den wird man vergessen.“
Dann geschieht, was in einem Gerichtssaal eigentlich nie geschieht: Im Publikum brandet Applaus auf, erst zaghaft, dann immer lauter. Die Familien der Toten klatschen, auch die Zuschauer hinten im Saal. Und gerade als man denkt, dieser außergewöhnliche Prozess könnte außergewöhnlicher nicht mehr werden, da passiert: nichts. Sebastian Bührmann könnte eingreifen und den Applaus unterbinden. Aber der Richter reagiert nicht. Er lässt diesen Moment einfach zu.