
Die Menschen in Estorf sind stolz auf ihre Barockkirche von 1696 und die alte Orgel, die auch nach fast 200 Jahren noch zuverlässig ihren Dienst tut. Vor allem im Sommer kommen scharenweise Radfahrer in die 1700-Seelen-Gemeinde, ihr Ziel ist das historische Scheunenviertel, hier finden regelmäßig Märkte statt. Und an jedem zweiten Sonntag trifft sich das halbe Dorf auf dem Sportplatz, um die Rot-Weißen, die Fußballer von Estorf-Leeseringen, anzufeuern. Das Örtchen gilt im Kreis Nienburg als fußballverrückt, der Klub will unbedingt zurück in die Bezirksliga.
Über die Mannschaftsaufstellungen und Torschützen informiert die Zuschauer seit vielen Jahren verlässlich Arnd Focke. Der SPD-Mann ist Stadionsprecher bei Rot-Weiß. Und bis zum 31. Dezember war der 48-Jährige auch Bürgermeister der Gemeinde, acht Jahre lang. Jetzt ist er es nicht mehr. Weil er nicht mehr will. Er ist zurückgetreten wegen „rechtsextremer Übergriffe“, wie er sagt, „es ist eine Flucht nach vorn zum Schutz der Familie und des Amtes“. „Wir vergasen dich wie die Antifa“ hätten Rechtsextreme auf Zettel geschrieben und ihm in den Briefkasten gesteckt. Sein Privatauto, sagt Focke, sei mit Hakenkreuzen beschmiert worden. Diese zwei Fälle habe er beim Staatsschutz angezeigt.
Im Ort sind viele überrascht von Fockes Rückzug. Er ist hier groß geworden, hat hier Fußball gespielt, ein ehemaliger Mitspieler beschreibt ihn als „meinungsstark, streitbar und mit breitem Kreuz“. „So erlebe ich Arnd Focke auch“, sagt Jens Beckmeyer, Bürgermeister der Samtgemeinde Mittelweser, zu der Estorf gehört. „Arnd Focke ist ein sehr engagierter Kommunalpolitiker. Er ist konstruktiv, vertritt auch kritische Entscheidungen deutlich, aber immer im Sinne der Sache. Ich bedaure, dass er aufhört. Mit seinem Rücktritt habe ich nicht gerechnet.“
Warum der rechte Hass Focke trifft? „Weil ich gegen Rechte Position beziehe“, sagt er im Gespräch mit dem WESER-KURIER. 2012 habe er einmal jemanden angezeigt, der öffentlich die erste Strophe des Deutschland-Liedes gesungen hatte. Auch sein Engagement in der Flüchtlingshilfe hätte 2016 nicht jeder gut gefunden. „Da gab es immer wieder mal nächtliche Anrufe. Aber das konnte ich noch aushalten.“ Die neuen Vorfälle dagegen hätten eine andere Dimension. „Das war jetzt einfach zu viel. Das wurde zu persönlich und zu direkt.“ Drei schlaflose Nächte habe er gehabt, dann habe er gewusst: Du hörst besser auf.
Fockes Entscheidung fällt in eine Zeit, in der das Thema Hass und Drohungen gegen Mandatsträger in Niedersachsen längst auf höchster Ebene angekommen ist. Im Herbst hatten der Bürgermeister von Salzgitter, Frank Klingebiel, und Lüneburgs Oberbürgermeister Ulrich Mädge Beschimpfungen und Drohungen gegen sie öffentlich gemacht.
Mädge ist Präsident und Klingebiel Vizepräsident des Niedersächsischen Städte- und Gemeindetages, der Ende September eine Resolution zu Gewalt gegen kommunale Amts- und Mandatsträger verabschiedet hat. Darin wird die Landesregierung aufgefordert, einen Fünf-Punkte-Plan gegen Beleidigungen, Drohungen, Hass und Gewalt auf den Weg zu bringen, der unter anderem eine konsequente Strafverfolgung vorsieht, aber auch von den Betroffenen ein konsequentes Anzeigen von Bedrohungen und Übergriffen einfordert. Zudem soll das Landeskriminalamt Tipps und Handreichungen geben, wie sich Mandatsträger vor Angriffen schützen können. Tatsächlich hat es entsprechende Maßnahmen seitdem gegeben. Noch im alten Jahr fanden beispielsweise Regionalkonferenzen in den Polizeidirektionen Braunschweig, Göttingen, Hannover, Osnabrück und Lüneburg statt, in denen Experten sich mit Kommunalpolitikern austauschten. Bei der Auftaktveranstaltung in Oldenburg hatte Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius dem WESER-KURIER gesagt: „Es gibt eine Enthemmung, und die ist vom rechten Rand in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen.“
Dass der Ton rauer wird, hat auch Bürgermeister Beckmeyer festgestellt. „So massive Drohungen wie Arnd Focke habe ich zwar noch nicht bekommen“, sagt er, „aber die Diskussionskultur leidet immer mehr. Es wird häufiger mit Parolen, Schlagworten und Vereinfachungen gearbeitet. Aber dieses Phänomen findet nach meiner Erfahrung vor allem in den sozialen Medien statt, die keine räumlichen Grenzen kennen.“
In Estorf gilt das jetzt nicht mehr. Die rechte Bedrohung ist vor der Haustür angekommen sozusagen. „Und das kann man sich eigentlich nicht vorstellen“, sagt Beckmeyer. Die AfD etwa hat in der Samtgemeinde Mittelweser keine Stimme, politisch spielt sie keine Rolle. In keinem der fünf Gemeinderäte sitzen AfD-Politiker. Und als sich die AfD im April 2018 im Dorfgemeinschaftshaus mit 40 Mitgliedern für eine Versammlung eingemietet hatte, standen Focke und viele Estorfer Bürger davor, um dagegen zu protestieren.
„Die Dorfgemeinschaft in Estorf ist von einem großen Zusammenhalt geprägt“, sagt Stefan Schwiersch, Redakteur bei der örtlichen Tageszeitung „Die Harke“, die als Erstes über Fockes Rücktritt berichtet hatte. In Estorf scheint die Welt noch in Ordnung. Die Mitglieder des Heimatvereins Scheunenviertel haben nicht nur die historischen Gebäude vor vielen Jahren wieder schick gemacht und halten sie seitdem in Schuss. Man schafft es auch regelmäßig, bekannte Künstler wie Heinz-Rudolf Kunze oder Gitte Haenning ins Dorf zu holen. Umso verstörender wirkt auf viele im Ort das, was gerade passiert. Arnd Focke sagt, dass er sich bei der Aufarbeitung auf den Rechtsstaat verlasse und nun erst einmal ein paar Monate Pause brauche. Klar sei aber auch: „An meiner Grundhaltung ändert sich nichts.“ Auf seiner Facebook-Seite hat er geschrieben: „#keinmillimeternachrechts bleibt mein Motto, nur die Bühne wird vielleicht etwas kleiner, ich werde unbequem bleiben, versprochen!“