
Kenner und Fans halten je nach eigenen Maßstäben 70 bis 90 dieser Musikinstrumente für sehr bedeutend. In Norddeutschland und Groningen haben rund 300 Orgeln die Historie überdauert. Die Dichte dürfte nicht nur in Nordeuropa einzigartig sein. Sie ist weltrekordverdächtig. „In Ostfriesland gibt es nicht nur viele Orgeln. Sie haben meistens auch eine sehr hohe Qualität“, sagt Harald Vogel.
Der Mann ist Organist, Professor an der Hochschule für Künste Bremen und kennt sich als Organologe bei Erforschung, Dokumentation und der Lehre von den Musikinstrumenten aus. Der gebürtige Ottersberger hat zudem mehrere Werke über Orgeln und Orgelbauer geschrieben oder an ihnen mitgewirkt. Von 1983 an war Vogel Orgelsachverständiger und Landeskirchenmusikwart der evangelisch-reformierten Kirche. In dieser Zeit hat er viele Restaurierungsprojekte begleitet. Unter anderem wurden zahl-reiche historische Orgeln in Ostfriesland vorbildlich restauriert. Zudem wurden auch neuere Orgeln nach seinen Entwürfen gebaut. Vogel ist ein anerkannter Experte.
Für ihn gibt es mehrere Gründe, warum ausgerechnet Norddeutschland zu einer Hochburg für Orgeln geworden ist. Die Nähe zum Wasser spielt dabei eine große Rolle. Entlang der Handelswege leisteten sich die Gemeinden eine gute und teure Orgel. Durch den blühenden Handel gab es die notwendige finanzielle Ausstattung. Die großen Instrumente sind bis heute Einzelprojekte. Eine industrielle Fertigung hat sich nie entwickelt. Es dürfte klar sein, dass Planung und Bau von Orgeln eine teure Angelegenheit waren. Sie spiegelten Wohlstand und Rang einer Gemeinde und ihrer Bürger wider. Vom 15. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zeigten die Bewohner ihren Wohlstand in der prunkvollen Ausstattung ihrer Dorfkirchen. Praktisch jede Dorfkirche beherbergt eine gute Orgel. Sie alle haben einen eigenen Charakter und wurden in die Kirchen individuell eingepasst.
„Orgelpfeifen haben Längen von bis zu zehn Metern und mehr“, erinnert Vogel zudem. Gefertigt wurden sie meist aus Zinn, Blei oder einer Legierung daraus. Entsprechend können sie mehrere Hundert Kilogramm wiegen. Das gesamte Material musste zu den Baustellen transportiert werden, da bot sich damals der Wasserweg an. Die Orgellandschaft konnte sich deshalb an der Küste, den Marschgebieten und entlang der Wasserwege einfacher entwickeln. „Im Landesinneren konnte sich keine hohe Dichte ergeben, weil das Geld nicht da war“, sagt Vogel. Viele Gemeinden kauften erst später Orgeln, die meist bescheidender ausfielen. Laut Vogel mangelte es auch an dem nötigen Wissen.
In der Zeit der Baublüte konzentrierten sich das Wissen und die Erfahrung in Norddeutschland und Holland. Die Szene befruchtete sich gegenseitig. Die guten Orgelbauer lebten und arbeiteten dort. Dazu gehörte auch Arp Schnitger. Mehr als 160 Instrumente wurden in der Werkstatt des Orgel-Baumeisters gefertigt. Etwa 30 davon sind noch erhalten.
Während der Reichtum der wohlhabenden Bauern in Ostfriesland der Region viele gute Orgeln bescherte, war die später einsetzende Verarmung dafür verantwortlich, dass die historischen Orgeln in hohem Maße bis heute erhalten wurden. Es war kein Geld mehr für Neubauten vorhanden. Nach der Finanzierung einer guten Orgel war laut Vogel für Generationen die Kirchenkassen leer. Die Instrumente waren eine sehr langfristige Investition. Dabei spielte ein weiterer Aspekt eine Rolle. Laut Vogel gab es kaum noch technische Innovationen im Orgelbau. Die Grundprinzipien blieben gleich. Es gab deshalb auch keine Anreize, Geld für neue Orgeln auszugeben. Die vorhandenen Instrumente waren noch immer auf dem neuesten Stand.
Die älteste Orgel Ostfrieslands steht in Rysum. Sie stammt aus dem Jahr 1457 und ist eine der ältesten bespielbaren Orgeln in Norddeutschland. Sie wurde vermutlich vom Orgelbaumeister Harmannus aus Groningen gebaut. In einer Chronik von Eggerik Beninga haben die Rysumer ihre Orgel in Naturalien bezahlt. Sie sollen „ere vette beeste“ (ihre fetten Rinder) über den zugefrorenen Dollart nach Groningen getrieben haben.
1960 wurde sie von dem Orgelbauer Jürgen Ahrend in Leer restauriert. Das trifft auch auf fast alle erhaltenen historischen Orgeln in Ostfriesland zu. Sie alle wurden in den vergangenen Jahrzehnten restauriert. Diese Arbeiten setzten erneut weltweit Maßstäbe für Restaurierungspraxis und Orgelbau. Sieben Orgelbauer, die daran beteiligt waren, sind bis heute im Ostfriesischen ansässig. Professor Harald Vogel setzt sich seit langer Zeit auch für alte Spielweisen historischer Orgeln ein – die Spielweise, für die sie ursprünglich geplant und gebaut wurden.