
Der Fahrgast steuert zielstrebig den Ticketautomaten auf der Zwischenebene der Stadtbahn-Station Steintor in Hannovers City an. Noch bevor der Mittfünfziger seine Geldbörse zücken kann, stürmen zwei junge Männer in weißen Westen auf ihn los und weisen freundlich darauf hin, dass man an diesem 1. Adventssonnabend keine Fahrkarte braucht. „Oh, danke“, wundert sich der Kunde und steigt etwas verdutzt in die Linie 6 Richtung Messe Ost. Für die beiden Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma ist es eine willkommene Abwechslung. „Das kam in den letzten drei Stunden ganze zwei Mal vor“, berichten sie und loben die „super Kommunikation“.
In der Tat wissen die meisten Öffi-Nutzer, dass sie sich an diesem Tag nicht um Fahrpreise und Zonen zu kümmern brauchen. „Bus und Bahn gratis fahr’n“ heißt die Aktion, mit dem der Großraum-Verkehr Hannover (GVH) seine gesamte Palette in der Region Hannover zwischen Bad Nenndorf, Springe, Großburgwedel und Lehrte bis um 5 Uhr am Sonntagmorgen kostenlos anbietet.
Es ist ein großes Experiment im Echtbetrieb, mit viel Brimborium beworben und andernorts, vor allem vom Niedersächsischen Städte- und Gemeindebund, auch mit viel Misstrauen beäugt. „Wenn wir den Klimaschutz ernst nehmen wollen und die Verkehrswende gelingen soll, braucht es auch Mut zum Ausprobieren“, hat der Chef der städtischen Verkehrsbetriebe, Volkhardt Klöppner, im Vorfeld erklärt. „Dieser Tag hat unsere Erwartungen mehr als erfüllt“, sagt er jetzt. „Wir haben rund 60 Prozent mehr Fahrgäste transportiert.“ Von einem „geglückten Einstieg in die Verkehrswende“ spricht der Verkehrsdezernent der Region, Ulf-Birger Franz. Die Menschen seien zum Umsteigen bereit.
Bei Familie Korsunsky aus dem Stadtteil Vahrenwald im Norden der Landeshauptstadt trifft das jedenfalls zu. „Wir fahren meistens mit dem Auto in die Innenstadt.“ Jetzt genießen Eltern und die Kinder im Alter von fünf und dreieinhalb Jahren ihren Bus-Trip auf der Linie 200. „Das kennen die nicht so“, sagt die Mutter.
Als – zumindest kurzfristige – Umsteigerin outet sich auch Alina Helmke aus Hannover-Leinhausen. „Wenn ich shoppen will, fahre ich sonst immer mit dem Auto. Selbst mit Parkticket ist das für mich günstiger als mit der Bahn.“ Heute dagegen ist sie mit ihrem Freund in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Und gönnt sich bei strahlendem Sonnenschein auch die Üstra-Zugabe einer kostenlosen Rikscha-Fahrt vom Opernplatz zu einem Café in der Nähe der Marktkirche.
Allein Gratis-Fahrten reichen aus Sicht der Verantwortlichen nicht, um autoverliebten Menschen Busse und Bahnen schmackhaft zu machen. „Nahverkehr ist nicht sexy, wenn sie in vollen Fahrzeugen stehen“, gibt GVH-Geschäftsführer Ulf Mattern unumwunden zu. Um bis zu 50 Prozent haben die Mitgliedsunternehmen des Verbundes ihre Kapazitäten erhöht; die Üstra-Stadtbahnen fahren am Test-Tag nicht nur in kürzeren Takten, sondern auch mit längeren Zügen. „Am Morgen waren sie noch krass voll“, berichtet eine Studentin. Zur Mittagszeit verteilt sich dann der Ansturm. „Ich habe mit mehr Gedränge gerechnet“, sagt eine junge Frau aus Laatzen, die mit ihrem 13-jährigen Neffen in die City zum Einkaufen gefahren ist. 2500 zusätzliche Park-and-ride-Plätze unter anderem auf dem Messe-Gelände sind eigens für die Aktion eingerichtet worden.
In der City gibt es neben den Fahrradtaxis mit Elektromotor einen eifrig frequentierten Aufbewahr-Service für Gepäck und Geschenkeinkäufe sowie eine „Schaufenster-Rallye“ mit attraktiven Gewinnen. Die Händler, die sonst gern gegen eine Verteufelung der Autos wettern, sind mit im Boot.
„Wir werten das als kompletten Erfolg“, freut sich Martin Prenzler, Geschäftsführer der City-Gemeinschaft über hohe Umsätze und entspannte Besucher. Bedingung für den Segen der Händler war allerdings, dass alle Parkhäuser im Zentrum erreichbar bleiben. Die Autos müssen lediglich kleine Umwege fahren, um Bussen und Bahnen auf der sonst staugeplagten Kurt-Schumacher-Straße Richtung Hauptbahnhof freie Fahrt zu gewährleisten.
Gefühlt geht das Konzept jedenfalls auf. So wenig Autos gebe es hier sonnabends sonst nicht, freut sich eine Glühweintrinkerin am Zentralplatz Kröpcke. Üstra-Busfahrer Metin Dirim, der einen zusätzlichen 200-er durch die City steuert, bestätigt den Eindruck. Im Verhältnis zu normalen Sonnabenden herrsche am diesem Tag extrem wenig Pkw-Verkehr. Sogar ausgesprochene Auto-Fans wie Hannovers FDP-Chef Patrick Döring, der sonst „aus reiner Bequemlichkeit“ fast immer mit dem Pkw in seine Firma in der Innenstadt fährt, wagen sich in die Öffis. „Ich finde die Idee richtig“, bekennt der ehemalige Bundestagsabgeordnete. Er meint, das hätte man an allen vier Adventssonnabenden machen sollen.
So weit wie im emsländischen Lingen, wo die Busse auch an den nächsten Wochenenden gratis fahren, mag der GVH noch nicht gehen. Die Einnahme-Ausfälle des nach eigenen Angaben bundesweit bisher einmaligen Versuchs eines gesamten Verkehrsverbundes taxiert Regions-Dezernent Franz auf 365.000 Euro. Zusammen mit Marketing, Fahrgastbefragung und Absperrungen beliefen sich die Gesamtkosten auf mehr als 600.000 Euro. Also keine Fortsetzung? Man wolle erst die Auswertung des Experiments abwarten. „Daraus werden wir dann die Konsequenzen ziehen.“
Dann dürften auch Maria Fuest und ihr Ehemann besser Bescheid wissen. Die beiden Touristen aus Hanau haben trotz der Hinweise am frühen Morgen zwei Tagestickets zum Preis von je 5,60 Euro gelöst. Freundliche Helfer waren bei ihnen nicht zur Stelle. Ihre Laune für den Wochenendtrip kann das nicht verderben. „Dann haben die Verkehrsbetriebe eben eine Spende von uns gekriegt.“
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