
Als die Nachricht von einem Corona-Ausbruch auf Norderney die Runde macht, fragt sich Tjark Gramberg, wie das überhaupt möglich sein kann. Wenn er in den vergangenen Wochen die Promenade entlang geschlendert ist, ist ihm kaum jemand begegnet. Wenn er hinunter zum Strand geblickt hat, hat er fast keine Menschenseele gesehen, und in den Einkaufsstraßen sind seit längerer Zeit nur noch vereinzelt Passanten unterwegs. Die allermeisten Geschäfte haben geschlossen, alle Bars und Restaurants sind zu. „Gähnende Leere“, sagt Gramberg.
Tjark Gramberg führt im Westen der Insel gemeinsam mit seiner Frau Maria das Hotel Friese und das Hotel Friese up Anner Siet, das, wie der Name schon sagt, gegenüber auf der anderen Straßenseite liegt. Bis zum Meer sind es nur 200 Meter, die berühmte Milchbar ist nicht viel weiter als ein Steinwurf weit entfernt. Seit dem 2. November haben die Grambergs keine Urlaubsgäste mehr in ihren beiden Häusern begrüßen dürfen. Nur noch Handwerker und Menschen, die eine Zweitwohnung auf der Insel haben, dürfen vom Festland überhaupt herüberkommen. Eigentlich, so hatte Tjark Gramberg angenommen, hätten sie auf Norderney das Coronavirus damit ganz gut unter Kontrolle gehabt. „Wir waren runter auf null“, sagt er. Und nun dies.
Den Menschen auf Norderney hat der Ausbruch noch einmal vor Augen geführt, wie heimtückisch das Virus agiert. Inzwischen weiß man, dass die Ausbreitung im örtlichen Krankenhaus ihren Anfang genommen hat. Ein Patient vom Festland, offenbar infiziert, war nach Norderney verlegt worden. Es dauerte nicht lange, und es hatte sich Krankenhauspersonal angesteckt, zeitgleich muss das Virus auch ins Seniorenzentrum „To Huus“ gelangt sein. „Und dann ging es rasend schnell“, sagt Kurdirektor Wilhelm Loth. Die Bilanz bis Anfang dieser Woche: fast 50 Infizierte, fünf Tote und rund 130 Inselbewohner in Quarantäne in ihren Häusern. Die ursprüngliche Diagnose, nach der ein Patient an der britischen Mutation des Virus gestorben sei, hat sich inzwischen als falsch herausgestellt. Das hat für Erleichterung auf der Insel gesorgt.
Trotzdem gilt noch zunächst bis Freitag eine Ausgangssperre zwischen 21 und 5 Uhr, die der zuständige Landkreis Aurich ausgesprochen hat. Nur wer einen triftigen Grund hat, darf das Haus in dieser Zeit noch verlassen. Es herrscht eine Kontaktsperre, Treffen mit Menschen aus anderen Haushalten sind zurzeit nicht erlaubt. Präsenzunterricht in der Schule findet nicht statt. Im Krankenhaus hat zurzeit nur noch die Notaufnahme geöffnet. Menschen in einem kritischen Gesundheitszustand werden aufs Festland geflogen oder mit dem Schiff hinüber gefahren. Auch das Rathaus ist im Moment geschlossen.
Kurdirektor Loth ist optimistisch, die Ausbreitung stoppen zu können. „Das ist der Vorteil einer Insel“, sagt Loth, der seit fast 20 Jahren hier Kurdirektor ist, „wir sind räumlich begrenzt. Außerdem ist der Ausbruchsort lokalisiert. Die Kontakte konnten gut nachverfolgt werden. Die Zusammenarbeit mit dem Landkreis funktioniert.“
Tatsächlich sind alle ostfriesischen Inseln im Vergleich zum Festland bisher relativ glimpflich durch die Corona-Krise gekommen, die nun schon fast ein Jahr lang anhält. Auf Juist, Langeoog, Baltrum, Wangerooge und Spiekeroog gibt es aktuell keine Infizierten. Lediglich Borkum, die größte der sieben ostfriesischen Inseln, ist noch auffällig. Dort sind aktuell 15 Fälle registriert, ausgelöst offenbar von drei berufstätigen Insulanern, die sich bei der Arbeit infiziert und das Virus dann in ihre Familien getragen haben. Einen klassischen Corona-Hotspot soll es auf der Insel nicht geben.
Seit Monaten ohne Corona ist die Nordsee-Insel Helgoland. Sie schottet sich noch mehr als die ostfriesischen Inseln vom Festland ab. Nur drei Schiffe kommen wöchentlich, alle Passagiere, erlaubt sind nur Insulaner, Angehörige und Handwerker, müssen einen Corona-Test machen. Diese Möglichkeit wird inzwischen auch für Norderney diskutiert. „Wir stehen im engen Austausch mit der Reederei“, sagt Loth, „Coronatests für die Überfahrt sind eine Möglichkeit, die wir thematisieren.“
Dass es Norderney härter trifft als die anderen Inseln, ist für Hotelier Gramberg leicht zu erklären. „Norderney ist eine Stadt“, sagt Gramberg, dessen Familie seit 1873 auf der Insel heimisch ist. Gramberg ist einer von rund 6000 Einwohnern. Juist dagegen hat keine 2000 Einwohner, Spiekeroog um die 800, Baltrum sogar noch weniger. „Unsere Infrastruktur ist eine ganz andere als dort“, sagt Gramberg, „wir haben Schulen, Krankenhäuser, Altenheime. Und diese Einrichtungen sind nun einmal am anfälligsten.“
Die Stimmung auf der Insel sei sehr gedrückt, sagt Kurdirektor Loth. „Es ist furchtbar, dass Menschen gestorben sind“, sagt Gramberg. Die Sehnsucht nach so etwas wie Normalität ist deshalb groß. Bis zum 7. März gilt bundesweit noch der Lockdown. Insgeheim stellen sie sich auf den Inseln aber überall schon auf eine Verlängerung ein. „Ich befürchte bis Ostern“, sagt Gramberg, „aber Ostern muss dann mit.“ Damit meint er das Ostergeschäft, das Anfang April beginnt, und auf das er und seine Kollegen nicht verzichten können. Sie sind nach dann fast fünf Monaten ohne Gäste darauf angewiesen.
Bisher halten sich die Kunden mit Buchungen für diese Zeit zurück. „Die Nachfrage ist sehr verhalten, die Menschen sind verunsichert“, sagt Gramberg, „jeder fragt sich: Wie geht’s weiter?“ Vergangene Woche hat er an einer Videokonferenz der Industrie- und Handelskammer (IHK) teilgenommen. IHK-Vertreter aus Emden und Papenburg, Landtagsmitglieder, Kurdirektoren, Tourismusexperten, Banker, Hoteliers und Gastronomen hatten sich zusammengeschaltet und genau diese Frage gestellt: Wie geht’s weiter? „Man konnte in der Runde sofort merken: Alle sitzen in den Startlöchern, man will wieder loslegen“, sagt Gramberg, „wir brauchen ein Licht am Ende des Tunnels.“
Eine Perspektive fordert auch Kurdirektor Loth von der Politik ein. „Wir sind eine Branche, die seit November die Füße still hält“, sagt er, „wir können nicht mehr tun als bisher schon.“ Deshalb habe es ihn auch überrascht, dass die ursprünglich angepeilte Marke von einem Inzidenzwert 50 für mögliche Corona-Lockerungen auf der jüngsten Ministerpräsidentenkonferenz mit der Kanzlerin nach unten auf 35 korrigiert worden ist. „Wir akzeptieren das natürlich“, sagt Loth, „aber dann muss man, um an dieses Ziel zu kommen, die Zügel anziehen und vielleicht für ein, zwei Wochen einen harten Lockdown machen.
Wie gern die Menschen wieder für einen Urlaub auf die Insel kommen würden, merke er bei jedem Telefonat mit seinen Stammgästen, sagt Gramberg. „Die Leute haben zu Weihnachten, zu Silvester und jetzt zu Karneval angerufen und gesagt: Wir sind sofort wieder da, wir kommen sofort, wenn wir dürfen.“ Das helfe beim Durchhalten und mache ein wenig Hoffnung, sagt der Hotelchef.
Sein Haus hat deshalb auch sein spezielles Angebot für die nächsten Feiertage noch nicht von der Homepage genommen. In der Rubrik „Unser Programm für die Ostertage“ wirbt das Hotel Friese weiterhin mit dem „schönen Osterfrühstück“ inklusive Secco Royale, einem Candle-Light-Dinner und einer Inselrundfahrt.