
Lily kommt ins Wohnzimmer. Sie sucht ihren Hund. „Wo ist Benno?“, fragt sie. Benno ist ein Spielzeughund, er hat eine Batterie im Bauch, er kann bellen und laufen auf Knopfdruck. Und Benno heißt eigentlich Bello. Aber mit der Aussprache ist das bei Lily so eine Sache. Sie ist fast vier Jahre alt, aber in ihrer Entwicklung etwas verzögert. „Hast du mal in der Spielecke nachgeschaut?“, fragt Mama Silke, die gerade zwei Leute von der Zeitung zu Besuch hat. Tatsächlich, dort, neben dem Spielzeugherd, hat sich Bello versteckt. Lily freut sich, dann geht sie zurück in ihr Zimmer. Weiterspielen mit Papa Thorsten.
Silke und Thorsten Haller sind nicht Lilys leibliche Eltern, sie heißen in Wirklichkeit auch anders, möchten genau wie Lily aber anonym bleiben. Die Familie lebt in einem Dorf im Landkreis Oldenburg, bis Bremen sind es nicht einmal 20 Minuten. Die Hallers sind bereits Lilys zweite Pflegefamilie. In der ersten Pflegefamilie war das Mädchen nur für drei Monate untergebracht, in einer familiären Bereitschaftsbetreuung, wie es offiziell heißt.
In die familiäre Bereitschaftsbetreuung kommen Kinder und Jugendliche, wenn alles ganz schnell gehen muss. Wenn das Jugendamt ganz schnell eine Familie als eine Art Notaufnahme braucht. Und bei Lily musste es schnell gehen. Ihre leibliche Mutter war drogenabhängig und musste dann auch noch ins Gefängnis. Ihr Vater? Er kümmerte sich nicht. Drei Familien in gerade einmal vier Lebensjahren – „können Sie sich vorstellen, was Lily schon mitgemacht hat?“, fragt Silke Haller.
Tabea Pioch kennt viele solcher Schicksale. Sie lebt mit ihrem Mann und den drei eigenen Kindern in der Nähe von Köln. Seit fünf Jahren nehmen sie als Bereitschaftsfamilie vorübergehend Kinder bei sich auf. Sie sollen nur ein paar Wochen, höchstens sechs Monate, in der Pflegefamilie bleiben. „Ansonsten wird die Bindung der Kleinen an die Bereitschaftsfamilie zu stark“, sagt Pioch. Und umgekehrt.
Auch die Pflegefamilie baut schließlich eine emotionale Bindung zum Gastkind auf. Tabea Pioch weiß, wovon sie spricht. Gleich ihr erstes Pflegekind sollte ursprünglich nur drei Monate bei ihnen bleiben, es wurden 13. Insgesamt blieben fünf der sieben Kinder, die bisher bei den Piochs waren, länger als geplant, zum Teil deutlich länger, „mit all dem Trennungsschmerz, wenn sie uns dann doch verlassen mussten“, sagt Pioch.
Damit sich daran etwas ändert, damit die Verweildauer in den Bereitschaftsfamilien sinkt, hat sie eine Petition gestartet. 50 000 Unterschriften muss sie sammeln. Dann hat sie Rederecht im Petitionsausschuss des Bundestages in Berlin. Sie will dann für eine bessere Ausstattung der Jugendämter werben und für mehr sowie entsprechend qualifizierte Familienrichter. Knapp 7300 Unterschriften hat sie zusammen, fünf Monate bleiben ihr noch.
Die Hallers unterstützen die Petition, sie haben früh unterschrieben. Auch sie sagen: „Die Jugendämter und die Amtsrichter haben einfach zu viele Fälle auf dem Tisch.“ Zwar war Lily nur kurz in der Bereitschaftsfamilie, bevor sie zu ihnen kam, aber trotzdem ist viel falsch gelaufen. Oder gerade deshalb? Weil das Jugendamt zu schnell entschieden hatte? Weil es nicht gründlich genug geprüft hatte? Es dauerte jedenfalls nicht allzu lange, da meldete sich Lilys leiblicher Vater. Er hatte jetzt doch wieder Interesse an seiner Tochter. Es entwickelte sich ein Rechtsstreit zwischen dem leiblichen Vater und der Pflegefamilie, der zwei Jahre dauerte.
Diverse Statistiken und Untersuchungen stützen die Einschätzung, dass viele Jugendämter überfordert sind. Laut Bundesarbeitsgemeinschaft Allgemeiner Sozialer Dienst wären 35 Fälle pro Jugendamtsmitarbeiter angemessen. Eine Forschungsgruppe der Hochschule Konstanz hat 2018 in Zusammenarbeit mit der Deutschen Kinderhilfe in einer Studie unter dem Titel „Berufliche Realität im Jugendamt“ alarmierende Zahlen zusammengetragen: In mehreren Bundesländern, unter anderem auch in Niedersachsen, sind es oft mehr als doppelt so viele Fälle pro Mitarbeiter, manchmal sogar über 100.
Und die Arbeitsbelastung wird nicht kleiner. Zwischen 2011 und 2014 lag die Zahl der sogenannten Inobhutnahmen in Niedersachsen relativ konstant bei 3300 bis 3500 Fällen pro Jahr. Heute sind es 4000. Darin sind die Fälle von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen nicht einmal eingerechnet. Sie hatten 2016 und 2017 ihren Höchststand, 4365 waren es im Rekordjahr 2016.
Hinter Silke und Thorsten Haller liegen viele schlaflose Nächte. Mehrere Tausend Euro haben sie im Rechtsstreit mit dem leiblichen Vater an Anwaltskosten bezahlt. Aber sie wissen, dass es sich gelohnt hat. Lily geht es heute besser als früher. Sie findet bei den Hallers das, was sie bisher so wenig in ihrem Leben hatte. Aufmerksamkeit, Liebe, Stabilität.
Lily kommt aus ihrem Zimmer. Sie will jetzt runter zur Wiese, dorthin, wo die Pferde grasen, auf denen sie jeden Tag reiten darf. „Papa, ich gehe schon mal vor“, sagt sie und zieht sich ihre Schuhe an. Lily liebt Pferde.
Meistens sind die Eltern überfordert
Es gibt verschiedene Gründe, weshalb Kinder und Jugendliche aus ihrer leiblichen Familie genommen und in Obhut gegeben werden. Laut Statistischem Bundesamt aus dem Jahr 2018 geschieht dies in 44 Prozent der Fälle, weil die Eltern überfordert sind.
Weitere häufige Gründe sind: Vernachlässigung (14 Prozent), Beziehungsprobleme (13 Prozent), Anzeichen für Misshandlung (12,6 Prozent), Probleme im Heim oder der aktuellen Pflegefamilie (8,4 Prozent) sowie Straffälligkeit/Straftat der Kinder/Jugendlichen (acht Prozent). Anzeichen von sexuellem Missbrauch spielen in knapp zwei Prozent der Fälle eine Rolle.
In Niedersachsen kommt rund ein Fünftel der Kinder in Pflegefamilien unter, gut drei Viertel in sozialen, karitativen, städtischen und kommunalen Einrichtungen, rund sieben Prozent in betreuten Wohngruppen. Die Inobhutnahme findet auf Basis des 8. Sozialgesetzbuches, Paragraf 42, statt. Darin heißt es: „Die Inobhutnahme umfasst die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen.“ Dies geschieht, wenn ein Kind darum bittet, wenn das Kindswohl gefährdet ist, oder wenn Minderjährige aus dem Ausland alleine nach Deutschland kommen.
Ich war „enttäuscht“, dass sie erst Anfang September geht, denn die ...