
Für manchen Autofahrer sind sie pure Schikane; andere Verkehrsteilnehmer sehen darin einen Schritt zu mehr Sicherheit: Tempo-30-Zonen erregen immer wieder die Gemüter. Die Region Hannover mit mehr als 1,1 Millionen Einwohnern will es jetzt wissen und startet einen Großversuch, um in Ortsdurchfahrten Auswirkungen auf Unfallgeschehen, Lärmbelastung und Umweltschäden zu erforschen.
Das Interesse daran übersteigt alle Erwartungen. Mehr als 100 Kreisstraßen haben die Städte und Gemeinden für den dreijährigen Test angemeldet. Das Verkehrsdezernat der Region hatte bei der Ausschreibung im Herbst mit rund 40 Strecken gerechnet und jetzt rund 100 ausgewählt. „Wir sind über diese Resonanz schon sehr erstaunt“, sagt Regionssprecher Klaus Abelmann.
Von den 20 Mitgliedskommunen neben der Landeshauptstadt machen 19 mit. Nur Burgwedel mit seinen Ortsteilen drückt sich; dort haben sich die CDU-dominierten Ortsräte gegen eine Geschwindigkeitsbeschränkung ausgesprochen. Ein positives Votum der Gemeindevertretungen war aber Voraussetzung für die Aufnahme der Straßen ins Programm. Hannover ist ebenfalls nicht dabei. Für seine Kreisstraßen ist die Landeshauptstadt selbst zuständig, nicht die Region.
Diese wertet die ausgewählten Strecken derzeit für den späteren Vorher/Nachher-Vergleich aus: Mitarbeiter zählen Autos und Fahrräder, erfassen Geschwindigkeiten, messen Lärm und Luftverschmutzung. Erste Tempo-30-Zonen will die Region ab Februar ausschildern. Dort sollen dann nach einer sechsmonatigen Gewöhnungsphase bis 2023 die neuen Daten erhoben werden. Abschließend wollen die Experten vor allem auch das Unfallgeschehen ohne und mit Tempolimit erforschen. „Wir kommen dem Wunsch von Anliegern nach mehr Verkehrssicherheit und Ruhe nach“, hatte Verkehrsdezernent Ulf-Birger Franz bei der Vorstellung des Vorhabens erklärt. Man wolle die Bevölkerung bestmöglich vor Lärm und Abgasen schützen. „Hierbei kann die Reduzierung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h in Ortsdurchfahrten einen Beitrag leisten“, heißt es im Beschluss der Region.
Möglich macht den Test eine Experimentierklausel, die im April 2020 in die Straßenverkehrsordnung aufgenommen wurde. Danach dürfen die kommunalen Straßenverkehrsbehörden nicht nur vor Schulen, Kitas, Kliniken und Seniorenheimen die Geschwindigkeit auf 30 drosseln. Tempolimits sind jetzt laut Paragraf 45 auch „zur Erprobung geplanter verkehrssichernder oder verkehrsregelnder Maßnahmen“ zulässig. „Es geht um Ortsdurchfahrten, auf denen Fußgänger zu Stoßzeiten kaum die Straße wechseln können, auf denen es unsicher für Kinder und Radfahrer ist“, betonte Dezernent Franz.
250.000 Euro hat die Region für die Verkehrsuntersuchungen veranschlagt. Dazu kommen die nach eigener Einschätzung der Behörde überschaubaren Kosten für die Beschilderung. In der Anfangsphase will die Region mit mobilen LED-Tafeln auf das verringerte Tempo in den Orten hinweisen. Massive Blitzer-Kontrollen werde es vorerst nicht geben, heißt es. Autofahrer sollten sich so erst auf die neue Situation einstellen können.
Im Ressort von Landesverkehrsminister Bernd Althusmann (CDU) blickt man dennoch kritisch auf das Großexperiment vor der Haustür. „Die Zulässigkeit solcher Versuche wird zurzeit noch geprüft“, erklärt eine Sprecherin. Das Ministerium hatte nach einem langen Hin und Her im vergangenen Sommer selbst ein – noch von der rot-grünen Vorgängerregierung 2017 initiiertes – Pilotprojekt auf Landesebene zu Tempo 30 gestartet.
Dieses fällt allerdings deutlich kleiner als der Regionsvorstoß aus. Nur sechs Strecken werden untersucht, je zwei in den Großstädten Osnabrück und Göttingen, in den mittleren Städten Garbsen und Seevetal sowie in den kleinen Orten Friedland und Edewecht. Auch hier läuft die Vorher-Erhebung bis Februar 2021, auch hier läuft die Probephase bis Ende 2023. Beworben hatten sich deutlich mehr Kommunen. Die Region Hannover ergriff aufgrund dieses lebhaften Interesses daraufhin selbst die Initiative.