
Wenn Volker Eissing erklären soll, wie dramatisch der Ärztemangel auf dem Land ist, dann hat er zwei Möglichkeiten. Manchmal zählt er einfach auf, wie alt die Mediziner sind, die in seiner Nachbarschaft praktizieren. Das hört sich dann so an: „Mein Kollege 500 Meter weiter ist 68, sein Kompagnon 80. In Esterwegen ist der Kollege 70, in Börgerwald 71, in Neubörger 70 und in Surwold auch.“ Eissing selbst ist 58, der mit Abstand Jüngste in dieser Runde.
Eissing macht die Dramatik des Themas aber gern auch noch auf eine zweite Art und Weise deutlich. Dafür benutzt er Landkarten, die zu einer acht Jahre alten Studie der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen gehören. Eine dieser schön bunten Karten zeigt, wo zwischen Nordsee und Harz, zwischen Emsland und Lüchow-Dannenberg ab 2020 Hausärzte fehlen werden. Nämlich überall. Die Karte ist tiefrot eingefärbt. Wie Alarmstufe rot. „Ein brutales Ergebnis“, sagt Eissing, „da bricht in Kürze richtig etwas weg. Dabei braucht Oma Meyer doch einen Hausarzt.“ Dass nicht schon jetzt alles viel schlimmer ist, liegt einzig daran, dass die Kollegen, die 70 und älter sind, einfach weitermachen anstatt in den Ruhestand zu gehen. Lange geht das nicht mehr gut.
Eissing ist seit 26 Jahren niedergelassener Allgemeinmediziner, und er ist keiner, der die Dinge als gegeben hinnimmt. Er hat schon immer lieber nach Lösungen gesucht, als den Ist-Zustand zu beklagen, und er hat manches auch anders gemacht als die Kollegen. Vor langer Zeit ist Eissing in die Lokalpolitik gegangen, nur so, findet er, lässt sich vor Ort etwas verändern und gestalten. Zehn Jahre später ist er in einer Angelegenheit, die ihm besonders am Herzen liegt, fast am Ziel: Wenn in den nächsten Wochen noch ein paar Gespräche so laufen, wie er sich das vorstellt, dann könnte ab Herbst am Ludmillenstift in Meppen das erste Semester im Studienfach „Physician Assistant“ (P. A.) beginnen.
Der P. A. ist ein noch sehr neuer Beruf im deutschen Gesundheitswesen. In den USA und anderen angloamerikanischen Ländern ist er längst etabliert, in den Niederlanden seit 15 Jahren. In Deutschland geht es nur langsam voran, an fünf Standorten kann man das Fach studieren, unter anderem in Berlin, Essen und Hamburg. Der P. A. wird in einem dreijährigen berufsbegleitenden Studium qualifiziert, bestimmte ärztliche Aufgaben zu übernehmen, etwa Ultraschalluntersuchungen zu machen oder Wunden zu nähen und zu versorgen. Im Grunde beschäftigt Eissing schon heute ganz viele Physician Assistants. Er sitzt im Medizinischen Versorgungszentrum Birkenallee, in Papenburg nur kurz MVZ genannt. Eissing hat sich an diesem Ort mit vier Kolleginnen und Kollegen zusammengetan. 50 000 Patienten werden hier im Jahr behandelt. Die Sprechstunde für Allgemeinmedizin beginnt um 6 Uhr morgens. Eissing ist nicht selten eine Stunde früher da. „Ich weiß, ich bin verrückt“, sagt er, „aber anders könnten wir nicht mehr alle Patienten versorgen.“
Am MVZ sind 75 Arzthelferinnen und Arzthelfer beschäftigt, 17 von ihnen haben eigene Sprechzimmer. Michael Sonntag-Groen zum Beispiel. Man könnte den Medizinischen Fachangestellten, wie seine Berufsbezeichnung ganz genau lautet, auch für einen Arzt halten. Er sitzt an einem Schreibtisch, vor ihm Tastatur, Computer und ein Stuhl für die Patienten. Sonntag-Groen ist der Fachärztin Esther Hessels, einer Neurologin im Haus, vorgeschaltet. Er kümmert sich um ein paar Hundert Patienten. Er erklärt ihnen die ausgewählte Therapie, informiert über Medikamente und ihre Nebenwirkungen, er führt kleine Voruntersuchungen durch und erstellt die Voranamnese, also die Krankengeschichte. Mit anderen Worten: Er nimmt der Ärztin, die weiterhin die Diagnose stellt und über die endgültige Therapie entscheidet, viel Arbeit ab. Er kann das sogar in Zahlen ausdrücken. „Frau Dr. Hessels bräuchte für das gesamte Paket pro Patient 30 Minuten“, sagt Sonntag-Groen, „wenn sie alle Patienten allein schaffen wollte, dann hätte sie aber nur fünf Minuten Zeit für jeden.“ Also ist er da.
Was so gut und schlüssig klingt, ist aber nicht ohne. Denn rechtlich gesehen, bewegt sich sein Chef, Volker Eissing, im Moment in einem „juristischen Graubereich“, wie dieser selbst sagt. Denn er delegiert ärztliche Aufgaben und würde deshalb bei Fehlern später vor Gericht auch der Verantwortliche sein. Das würde sich ändern, wenn Mitarbeiter wie Sonntag-Groen einen anerkannten Abschluss als P. A. hätten. Die zusätzliche Verantwortung würde Sonntag-Groen gern übernehmen. „Ich habe mich schon für einen Studienplatz beworben“, sagt er.
Damit steht er nicht allein. Gleich nach der ersten großen Informationsveranstaltung in Papenburg mit rund 400 Besuchern trugen sich 107 davon in eine Interessentenliste ein, „und jeden Tag kommen neue Bewerbungsunterlagen dazu“, sagt Eissing. Mit 25 Plätzen soll es im Herbst losgehen, Meppen wäre die Außenstelle der Steinbeis-Hochschule Berlin, die diesen Studiengang anbietet. Mit dem Bau des Hörsaals am Ludmillenstift soll im Frühjahr begonnen werden. Die Studiengebühren in Höhe von 500 Euro im Monat, also 18 000 Euro für das komplette Studium, übernehmen Kommunen und Landkreise, auch die Kassenärztliche Vereinigung unterstützt das Projekt. Die Studierenden, die eine Ausbildung in einem medizinischen Beruf sowie zwei Jahre Berufspraxis oder Abitur plus Ausbildung nachweisen müssen, arbeiten pro Monat drei Wochen im Job und drücken eine Woche die Schulbank.
Sonntag-Groen würde lieber heute als morgen anfangen. „Ich habe einfach ein großes Interesse an der Medizin“, sagt er. Natürlich könnte er sich schon jetzt akademisch fortbilden, das hat er in Teilbereichen auch schon getan, aber wenn er zum Beispiel Gesundheitsmanagement studierte, dann würde er später vermutlich in einer Geschäftsführung oder einer Pflegedienstleitung landen, auf jeden Fall in einem Bereich mit vielen Verwaltungsaufgaben. Mit anderen Worten: weit weg vom Patienten. Das will er aber nicht. Er will nahe am Patienten bleiben. Als P. A. könnte er das.
Die Ausbildung hat einen weiteren positiven Effekt: Zwischen 1200 und 1400 Euro netto verdienen Arzthelferinnen. Nach dem Studium wäre es deutlich mehr. Das würde die Attraktivität medizinischer Berufe erhöhen. Eissing ist sich sicher: „Es würde auch den Beruf des Landarztes wieder attraktiver machen.“ Weil der Landarzt künftig ein Team um sich hätte, das viel mehr machen dürfte als heute. Denn auch das hat Eissing im Laufe der Jahre festgestellt: „Für die nachrückende Generation an Hausärzten ist die Work-Life-Balance ein ganz entscheidender Faktor bei der Berufswahl.“ Und ein Dienstbeginn um 6 Uhr morgens ist nicht unbedingt das, wovon junge Mediziner träumen. Aber mit Hilfe der Physician Assistants, davon ist Eissing überzeugt, müsste künftig keine Praxis mehr ihre Türen zur Sprechstunde so früh öffnen.
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es sind also genug für alle für die ...