
Das sechsseitige Papier mit seinen vielen Zahlen, Karten und Tabellen hat es in sich. In einer „Unterrichtung“ für den Landtag fordert Niedersachsens Landeswahlleiterin Ulrike Sachs zwingend den Neuzuschnitt der Landtagswahlkreise 49 Lüneburg und 19 Einbeck bis zur nächsten Landtagswahl 2022. Für vier weitere, darunter der Wahlkreis 60 Osterholz, hält sie eine Reform für dringend geboten. Sachs macht jeweils mehrere Vorschläge, welche Gemeinden wohin wechseln könnten.
Doch dies birgt reichlich Sprengstoff. Direkt gewählte Landtagsabgeordnete fürchten um ihre künftigen Mehrheiten; Kommunalpolitiker sehen landsmannschaftlich gewachsene Strukturen in Gefahr. „Das Konfliktpotenzial ist ziemlich groß“, schwant es SPD-Parlamentsgeschäftsführer Wiard Siebels, dessen eigener Wahlkreis 86 Aurich ebenfalls auf der Sachs-Liste auftaucht.
Schon in früheren Jahren führten Neuzuschnitte zu Hauen und Stechen vor allem zwischen den beiden Volksparteien CDU und SPD, die bisher immer das Rennen um die 87 Direktmandate im Leineschloss zu Hannover unter sich ausgemacht haben. Union und Genossen beäugten jeweils aus der Opposition heraus jede Verschiebung einer Gemeinde durch die amtierende Regierung höchst misstrauisch, konnten sie doch dadurch ihre Hochburgen einbüßen.
So gilt die Niederlage des damaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden Björn Thümler gegen seine SPD-Herausforderin Karin Logemann bei der Wahl im Herbst 2017 nicht zuletzt als Folge des Rauslösens der Gemeinde Jade aus dem Wahlkreis Wesermarsch. Auch unter der neuen rot-schwarzen Regierung dürfte sich die Interessenlage kaum ändern. „Früher war es schon schwierig genug“, meint CDU-Parlamentsgeschäftsführer Jens Nacke. „Jetzt in der Großen Koalition wird es bestimmt nicht einfacher.“
Verhindern lassen sich Änderungen der Wahlbezirke allerdings nicht; sie sind einer unterschiedlichen Bevölkerungsentwicklung geschuldet. Jede Wählerstimme muss laut Verfassung überall das gleiche Gewicht haben. Dies wiederum erfordert in etwa gleich große Wahlbezirke. Von der Durchschnittszahl der Wahlberechtigten – derzeit 69.559 – darf man höchstens um 25 Prozent nach oben oder nach unten abweichen. Mit 27,01 Prozent liegt Lüneburg deutlich über der Toleranz, ist also viel zu groß und muss Wähler loswerden.
Einbeck unterschreitet die Grenze mit 25,46 Prozent, braucht also einen Zuwachs an Wahlberechtigten. Bliebe hier alles beim Alten, wäre die nächste Landtagswahl nicht korrekt, könnte erfolgreich angefochten werden. Mehrere Lösungsmodelle bietet die Landeswahlleiterin für diese beiden Wahlkreise an. So soll Lüneburg insbesondere die Samtgemeinde Amelinghausen an den Wahlkreis 44 Soltau abgeben.
Ein Nachteil, der schon vor vier Jahren unter der rot-grünen Landesregierung zu riesigem Widerstand beim damaligen Bürgermeister geführt hat: Die Kommune verbindet nichts mit dem Nachbarbezirk; ein Truppenübungsplatz bildet eine fast unüberwindbare Barriere. „Amelinghausen liegt ziemlich weit vom Schuss“, sagt auch der in Soltau direkt gewählte CDU-Abgeordnete Karl-Ludwig von Danwitz. Dass der Zuwachs die eigenen Größenprobleme – sein Wahlkreis liegt mit minus 24,22 Prozent so gerade noch im zulässigen Bereich – lösen könnte, gibt der Parlamentarier aber gern zu.
Wahlleiterin Sachs garniert ihre Ideen mit umfangreichen Tabellen, aus denen sich mögliche Auswirkungen auf künftige Wahlergebnisse ablesen lassen. Während die SPD in Lüneburg ihren 2017 erzielten großen Vorsprung auf bis zu 12,1 Prozentpunkte weiter ausbauen könnte, schmilzt der CDU-Vorteil von derzeit 5,7 Punkten in Soltau je nach Modell auf bis zu 3,0 Punkte. In Einbeck dagegen wirken sich die angedachten Verschiebeaktionen nur marginal auf die Parteienergebnisse aus, da die SPD hier und in allen in Betracht kommenden Nachbarbezirken weit vorn liegt.
Bei Osterholz blickt die Landeswahlleiterin bereits in die fernere Zukunft. Mit Plus 23,92 Prozent liegt der Wahlkreis 60 zwar noch im Toleranzbereich, dürfte diesen aber spätestens nach der nächsten Wahl verlassen. Da könne man dieses Problem hier und in den drei anderen Wahlkreisen Soltau, Seesen und Aurich schon jetzt mitlösen, argumentiert Sachs. Ein „vorausschauender Neuzuschnitt“ führe zu einer „entsprechenden Kontinuität für die weiteren Wahlperioden“. Osterholz soll die Gemeinde Ritterhude an den Wahlkreis 59 Unterweser abtreten, dessen Minus-Abweichung sich erheblich verbessern würde.
Als Alternative könne man laut Sachs die Flecken Oyten und Ottersberg von Osterholz in den Wahlkreis 53 Rotenburg schieben. Für den direkt gewählten CDU-Abgeordneten Axel Miesner kommt beides nicht in Betracht, obwohl er nach den Berechnungen der Wahlleiterin bei jedem der Modelle seinen Vorsprung auf die SPD ausbauen könnte. „Ich sehe keine Notwendigkeit, in die bewährten Strukturen einzugreifen.“ Der Wahlkreis in seinem jetzigen Zuschnitt habe sich über viele Jahre als funktionstüchtig erwiesen.