
„Delmenhorst? – Sollte sich vielleicht lieber in Högel-City umbenennen lassen.“ Nur ein böser Scherz, den Jan Böhmermann bei einem seiner Live-Auftritte in Bremen machte? Der Junge aus Bremen-Nord. Ausgerechnet. Aber er ist mit der Witzelei ja nicht alleine. Högel-City ist da nur eine von vielen Schmähungen. Auch der ikonische Höger-Bau, die vom Weltkulturerbe-Architekt Fritz Höger entworfene Fassade des Krankenhaus-Komplexes im schönsten Klinker-Expressionismus, wird dank der Namensähnlichkeit zynisch zum „Högel-Bau“. Dabei ist das Scherzen nur ein Versuch, mit dem Unfassbaren, mit den wer weiß wie vielen Morden des ehemaligen Krankenpflegers umzugehen.
Delmenhorst ist mit den Taten Niels Högels, der sich derzeit wegen 100 Patientenmorden vor Gericht verantworten muss und gegen den am Donnerstag das Landgericht Oldenburg nun schon zum vierten Mal ein Urteil sprechen wird, in den Köpfen vieler Menschen fest verbunden. Was nicht verwunderlich ist: Ein Großteil seiner Taten hat Högel auf der Intensivstation im Delmenhorster Klinikum begangen. Aber auch in Oldenburg tötete Högel, der in Wilhelmshaven geboren wurde und aufgewachsen ist. Mit Blick auf seine anderen Arbeitsplätze, in Altenheimen oder auf dem Rettungswagen, gehen die Ermittler davon aus, dass er es dort ebenfalls zumindest versuchte, Menschen zu töten. Beweisen können sie es nicht. Trotz alldem haften die Taten vor allem an: Delmenhorst.
Nach allem, was die Ermittler herausgefunden haben, begann Högel auf der herzchirurgischen Intensivstation des Klinikums Oldenburg mit seinen Taten, am 7. Februar 2000 soll es gewesen sein. Um 12.35 Uhr endete das Leben von Else S., 77 Jahre alt. Die Gutachter fanden bei ihrem Aktenstudium 15 Jahre später, dass es eigentlich keinen medizinisch plausiblen Grund gab, weshalb die Patientin plötzlich verstarb. Die toxikologische Untersuchung ihres Leichnams ergab, dass sich in ihrem Körper das Medikament Lidocain befand. Das Betäubungsmittel, das auch als Antiarrhythmikum bei Herzrhythmusstörungen eingesetzt wird, war nicht von einem Arzt verordnet worden, zumindest soweit es die Krankenakten hergeben.
Niels Högel sagte im Prozess zu diesem Fall nur: „Ich erinnere mich nicht.“ Was sehr dafür zu sprechen scheint, dass Else S. nicht sein erstes Opfer war, denn an die erste Tat müsste er sich eigentlich erinnern, meinte der rechtspsychologische Gutachter Max Steller. Steller ist forensischer Psychiater, ein Spezialist für den Wahrheitsgehalt von Aussagen. Aber welcher Patient auch immer als erster durch Högel starb: Der Sündenfall war in Oldenburg.
Und auch der zweite Sündenfall ereignete sich in Oldenburg. Als das Unbehagen über Högel so groß wurde und die Verantwortlichen, die Chefärzte, die Klinikleitung, nicht mehr darüber hinwegsehen konnten, dass sie sehr wahrscheinlich einen Pfleger beschäftigen, der Patienten nicht hilft, gesund zu werden, sondern sie schädigt und eventuell sogar tötet, lobten die Oldenburger Högel weg. Sie stellten ihn frei, bezahlten ihm noch drei Monate sein Gehalt weiter, wenn er nur von sich aus kündigen würde.
Sie schrieben ihm auch ein ordentliches Zeugnis, kein exzellentes, aber so gut, dass sie sich auf der Delmenhorster Intensivstation im Dezember 2002 über ihren Neuzugang freuten. „Hätten die damals Verantwortlichen am Klinikum Oldenburg Ende 2001 die Ermittlungsbehörden eingeschaltet, hätten wir Niels Högel entlarvt“, sagte der Chef der Sonderkommission „Kardio“, Arne Schmidt, 2017. Schon in Oldenburg sei aufgefallen, dass sich 58 Prozent aller Sterbefälle während des Dienstes von Högel ereigneten, weitere elf Prozent fielen in die Zeit direkt nach seinem Schichtende. Doch in Oldenburg, so scheint es, beschäftigten sich die Menschen nicht so intensiv mit Högel wie in Delmenhorst.
Obwohl dort alles begann, obwohl sich die Oldenburger an allem, was später in Delmenhorst geschah, sehr wahrscheinlich im höchsten Maße mitschuldig gemacht haben, ist Högel vor allem der Patientenmörder aus Delmenhorst. Vielleicht liegt das daran, dass sich niemand so recht vorstellen mag, dass im beschaulichen Oldenburg, der Universitätsstadt mit Schloss, solche Gräueltaten begangen wurden. Vielleicht passt das alles einfach besser zu dem Bild, was sowieso viele Menschen von Delmenhorst haben, der einstigen Arbeiter- und Industriestadt, der mit dem Verschwinden der großen Fabriken wie der Jute und der Nordwolle auch die eigene Identität irgendwie abhanden kam.
Delmenhorst ist es dann nicht gelungen, sich selbst ein neues Image zu geben, stattdessen kleben die alten Vorurteile an der Stadt, zum Beispiel das, eine Kriminalitätshochburg zu sein. Seitdem Delmenhorst in einer bundesweiten Statistik vor Jahrzehnten einmal ganz oben landete, neben Frankfurt am Main, ist dieses Attribut nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Dass es nachweislich anders ist, dass die Kriminalitätsstatistik mittlerweile etwas anderes aussagt, nimmt keiner zur Kenntnis. Und in dieses Image passt der größte Serienmörder der bundesrepublikanischen Geschichte einfach gut.
„Oldenburg ist da nicht so im Fokus, weil bei Delmenhorst aufgrund früherer Zuschreibungen immer ganz genau hingeschaut wird“, sagt auch Iris Stahlke, Sozialpsychologin an der Universität Bremen, die sich mit der Entstehung und Dynamik von Vorurteilen beschäftigt hat. Von daher stehe dann genau dieses kleine Delmenhorst im Zentrum der Berichterstattung um Niels Högel, wohingegen Oldenburg „in den Medien ein viel positiveres Bild von sich als Stadt zeigt“. Doch es sind nicht nur Vorurteile, es liegt auch an einem Vakuum.
Die Menschen haben in Delmenhorst ja selbst gemerkt, dass sie ein Imageproblem haben. Nicht erst seit Högel und vor allem nicht wegen Högel. Die Wirtschaftsförderung hat deshalb ein Standortmarketingkonzept in Auftrag gegeben. Dabei kam in einer Umfrage mit 1000 Teilnehmern aus Delmenhorst, Bremen, der Region und Niedersachsen etwas Ernüchterndes heraus: Es gibt nichts bis wenig, was Menschen mit Delmenhorst verbinden, am ehesten noch Sarah Connor.
Das Fazit der Beraterfirma Cima lautete: „Das Imageproblem der Stadt beruht vor allem auf fehlender Positionierung.“ Diese Lücke füllen viele Menschen dann selbst, und zwar meist auf Basis aktueller Berichterstattung, zum Beispiel über Högel. Oder über kaltherzige Vermieter im Wollepark, die ihre Mieter dort monatelang ohne Gas und Wasser leben lassen. Oder über die Krankenhaus-Insolvenz. Dieses Image-Vakuum ist so groß, dass die Vorurteile und die schlechten Nachrichten überrepräsentiert sind. „Die Ursache dafür ist die fehlende Kommunikation dessen, was Delmenhorst eigentlich ausmacht“, erklärte Cima-Projektmanagerin Regina Schroeder.
Symptomatisch dafür, dass Delmenhorst mit seinen Pfunden nicht wuchert, ist eine andere Geschichte, die Delmenhorst weltweit in die Nachrichten brachte. Als 2006 der rechtsradikale Anwalt Jürgen Rieger über die Wilhelm-Tietjen-Stiftung für Fertilisation das ehemalige Hotel Am Stadtpark kaufen und dort ein Schulungszentrum für Neonazi-Kader einrichten wollte, wehrten sich die Delmenhorster vehement. Mit Erfolg. Rund eine Million Euro wurde an Spendengeldern eingesammelt, die Stadt selbst steckte Geld in den Kauf der Immobilie. Doch dann endete die Geschichte – und vielleicht ist das auch typisch für Delmenhorst – im Streit. Die Politik war sich nicht einig, was mit dem Hotel und der angrenzenden Delme-Burg, einem großen Festsaal mit Restaurantbetrieb, geschehen soll. Am Ende wurde alles abgerissen. Was blieb? Eine Wiese, meist Hotelwiese genannt. Dort erinnert nichts an diesen erfolgreichen, diesen die Stadt einenden und Identität stiftenden Widerstand. Erinnerungskultur: gleich null. Da haben Högel-Geschichten es leichter, den Platz in der Wahrnehmung einzunehmen.
Zumal die Geschichte, als sie 2014 im ersten größeren Prozess Fahrt aufnahm und auf einmal Medien in ganz Deutschland und der Welt interessierte, nur in Delmenhorst spielte. Damals waren gerade einmal fünf Taten angeklagt, alles waren ehemalige Patienten des Delmenhorster Krankenhauses. Dazu kamen die Bilder. Högel selbst versteckte sich zu Beginn der Prozesstage hinter einem Aktendeckel aus Pappe. Offizielle Statements der Krankenhausverantwortlichen vor laufenden Kameras gab es kaum, also wurde immer wieder der Höger-Bau gezeigt, der neben seiner herausragenden Ästhetik unterschwellig auch etwas Bedrohliches ausstrahlt.
Es fällt leicht, sich dort Högel in Aktion vorzustellen (auch wenn er in dem Gebäude gar nicht getötet hat). Das fällt bei der architektonischen Nüchternheit des Klinikums Oldenburg, einem modernen wie reizlosen Zweckbau, schwerer. Auch machten die Delmenhorster Verantwortlichen damals vieles falsch in der Kommunikation, während der Oldenburger Krankenhausvorstand Dirk Tenzer den Aufklärer gab, eigeninitiativ medizinische Gutachten erstellen ließ und den Hinterbliebenen von potenziellen Opfern Högels Entschädigungen versprach, weil allen klar war, dass Högel lügt, wenn er Taten zu seiner Oldenburger Zeit bestritt.
Das Oldenburger Saubermann-Image bröckelte erst jetzt, in diesem Verfahren, als die ehemaligen Kollegen Högels aus Oldenburg allzu große Gedächtnislücken offenbarten und ganz offensichtlich nicht all das erzählen mochten, woran sie sich wahrscheinlich doch noch erinnern.
Die Frage ist, was bleibt. Haftet der Name Niels Högel auch nach dem vierten Urteil weiter hartnäckig an Delmenhorst? Ist es überhaupt möglich, eine solch negative Konnotation wieder wegzubekommen? „Davon gehe ich aus“, sagt Iris Stahlke, die Sozialpsychologin. „Man hat natürlich immer die Tendenz, den Fokus auf das zu richten, was nicht so gut ist. Wichtig ist, zu differenzieren. Es gibt ja nicht nur Niels Högel in dem Krankenhaus, sondern auch viele Erfahrungen mit der und positive Berichte über die Einrichtung.“ Es werde eine Zeit dauern, bis sich eine solche Assoziation auflöst. Weil Menschen so etwas immer lange im Kopf behalten, eben weil die Vorfälle mit starken Emotionen verbunden sind. „Aber wenn neben der negativen Konnotation auch immer die positiven Aspekte der krankenhausärztlichen Versorgung genannt werden, ist das durchaus veränderbar.“