
Wenn es doch nur überall so wäre wie zu Hause. Susanne Steffgen sitzt im Rollstuhl, ihre kleine Wohnung auf dem Gelände des Wohnparks am Fuchsberg ist behindertengerecht. Die Türen extra breit, die Räume groß genug zum Rangieren. Und von unten fährt ein Fahrstuhl hinauf in den zweiten Stock, in dem sie wohnt. Zweimal war der Aufzug seit 2016 defekt, beide Male schnell repariert. Kein Problem für die 55-Jährige.
Die Probleme beginnen, wenn Steffgen ihr Haus verlässt. Dann reicht ein defekter Fahrstuhl aus, um aus einer Routinefahrt mit dem Zug eine Odyssee werden zu lassen. Im Unterschied zum Fahrstuhl in ihrer Wohnung sind die Fahrstühle an deutschen Bahnhöfen nämlich häufiger defekt, fallen stundenlang aus, manchmal sogar für Tage. So wie neulich.
Steffgen wollte von Ganderkesee nach Oldenburg. Rund 40 Minuten dauert die Fahrt normalerweise. Bis vor wenigen Wochen wäre Steffgen von Ganderkesee mit der RB 58 über Delmenhorst direkt nach Bremen und von dort nach Oldenburg weitergefahren. Seit Anfang September jedoch endet der Zug an Wochenenden in Delmenhorst. Weil es der Nordwestbahn (NWB) an Lokführern fehlt, hat das Unternehmen den Verkehr eingeschränkt.
Für Reisende bedeutet dies, dass sie in Delmenhorst zur Weiterfahrt von Gleis 1 auf Gleis 2/3 wechseln müssen. Schlecht für Menschen wie Steffgen, wenn in dieser Zeit der Aufzug defekt ist. „Dann komme ich nicht weiter“, sagt sie, „ich habe dann nur eine Möglichkeit.“ Die Alternative: Sie verlässt den Delmenhorster Bahnhof und fährt mit dem Bus nach Huchting zum Roland-Center. Dort nimmt sie die Straßenbahn bis zum Bremer Hauptbahnhof und fährt mit dem Zug weiter nach Oldenburg. Statt 40 Minuten wie sonst muss sie für diesen Weg zwei Stunden und elf Minuten einplanen. Sie sagt: „In einer Gesellschaft, die das Prinzip der Inklusion leben möchte, sollte es nicht so sein, dass Menschen mit Einschränkungen zusätzliche Hürden in den Weg gestellt werden.“
Steffgen sitzt wegen einer fortschreitenden Nervenerkrankung im Rollstuhl. Das Luftholen fällt ihr schwer, manchmal auch das Schlucken. Die Akkus in ihrem Sauerstoffgerät halten für acht Stunden, eine Tour mit Bus, Straßenbahn und Bahn von Ganderkesee via Bremen nach Oldenburg kommt für sie deshalb nicht infrage. Stattdessen zahlt sie im Moment 30 Euro für ein Taxi nach Hude aus eigener Tasche, um von dort nach Oldenburg weiterzufahren. „Von Teilhabe am gesellschaftlichen Leben kann in solchen Fällen nicht ernsthaft die Rede sein“, sagt sie.
Aus diesem Grund hat sie vor drei Jahren angefangen, sich politisch zu engagieren. Sie sitzt jetzt für die Linkspartei im Gemeinderat Ganderkesee. Im Mai hat sie sich für die Europawahl aufstellen lassen. Sie kommt viel rum im Land. Ihre Familie lebt in Rheinland-Pfalz, zu Fachtagungen oder Fortbildungen fährt sie mit der Bahn regelmäßig nach Berlin oder Mainz.
Immer muss sie damit rechnen, dass ihre Reisen nicht wie geplant ablaufen. In Berlin, sagt sie, sei sie schon fünfmal gestrandet und habe in einem Hotel übernachten müssen; mal fehlte der Waggon mit den Plätzen für Rollstühle, mal fehlte Personal, um ihr beim Einstieg zu helfen. In Karlsruhe hat sie einmal eine Nacht bei der Bundespolizei am Bahnhof verbracht, weil ein Aufzug defekt war und sie deshalb den letzten Zug verpasst hatte. Die örtliche Tageszeitung berichtete später groß über den Fall. Am Dilemma im Delmenhorster Bahnhof sind zwei Parteien beteiligt. Einmal die NWB, die Fahrpläne kürzt, und die Deutsche Bahn (DB), deren Aufzug nicht funktioniert.
Die NWB gibt sich selbstkritisch. „Niemand, der mobilitätseingeschränkt ist, soll einen Nachteil haben“, sagt Unternehmenssprecher Steffen Högemann. Er sei „optimistisch“, dass ab Frühjahr 2020 die Züge wieder bis nach Bremen durchfahren. Zurzeit würden neue Lokführer ausgebildet. Und um den Kampf um Personal nicht weiter zu verstärken, haben die konkurrierenden Verkehrsunternehmen vor einiger Zeit eine Vereinbarung abgeschlossen: Sie wollen sich gegenseitig keine Mitarbeiter mehr abwerben.
Auch die für Niedersachsen zuständige DB-Pressestelle gelobt in einer schriftlichen Stellungnahme Besserung. Zum Problem des defekten Fahrstuhls heißt es: „Auch wir ärgern uns natürlich über jeden Ausfall.“ Und weiter: „Wir unternehmen sehr viele Anstrengungen, um die Verfügbarkeit zu verbessern.“ Tatsächlich wird die Deutsche Bahn in den nächsten zehn Jahren in großem Stil Geld ausgeben. Der Bundesrechnungshof und Fahrgastverbände mahnen seit Jahren an, dass viele notwendige Investitionen nicht getätigt würden.
Nun sollen bis 2029 insgesamt 86 Milliarden Euro in den Erhalt und die Modernisierung von 3300 Kilometern Schiene, 2000 Brücken und 5700 Bahnhöfen gesteckt werden. „Ein erster Schritt wäre, jeden Bahnhof barrierefrei zu machen“, sagt Steffgen. Laut Bahnstatistik herrscht an 84 Prozent aller Bahnhöfe sogenannte „Stufenfreiheit“, das heißt, dass Bahnsteige ebenerdig sind oder über Rampen und mittels Aufzügen erreicht werden können.
Im Moment ist Steffgen meist auf den guten Willen der Mitreisenden und der Bahnmitarbeiter angewiesen, wenn unvorhergesehene Probleme auftauchen. Nicht immer, aber oft fänden sich Lösungen, sagt Steffgen. Auch NWB-Sprecher Högemann zeigt sich pragmatisch: „Wenn es Probleme gibt: einfach bei uns melden. Auch wenn die Probleme, wie beim Fahrstuhl am Delmenhorster Bahnhof eigentlich nicht in unsere Zuständigkeit fallen, fühlen wir uns den Fahrgästen gegenüber verpflichtet.“ Die Deutsche Bahn weist auf ihre App „DB barrierefrei“ und die Internetseite www.bahnhof.de hin. Dort könnten Fahrgäste prüfen, ob Aufzüge in den Bahnhöfen funktionstüchtig seien.
Der Fahrstuhl auf Gleis 2/3 im Delmenhorster Bahnhof tut inzwischen wieder seinen Dienst. Dafür erlebte Steffgen vergangene Woche auf dem Weg zu einem Arzttermin an Gleis 1 die nächste Überraschung. Wegen Wartungsarbeiten war der dortige Fahrstuhl außer Betrieb. Zum Glück hätten die Techniker unkompliziert reagiert, so Steffgen. Sie hätten ihre Arbeit unterbrochen und eine kurze Pause gemacht, „ich konnte fahren, und danach haben sie weitergearbeitet“. So dankbar sie den Männern sei, sagt sie, „es kann nicht sein, dass jede Bahnfahrt zu einem Abenteuer wird. Was wir Menschen mit Einschränkungen brauchen, ist Verlässlichkeit.“