
Der Jäger kniet vor einem Haufen Müll. Er fächert durch Verpackungen, fährt über Trinktüten, Salamireste, Pizzakartons. Dann fingert er eine rundliche Box aus dem Durcheinander, darauf ein Hanfblatt, darin Tütchen mit Marihuanakrümeln. Der Jäger richtet sich auf und schüttelt den Kopf. Der Mensch, der die Gefahr in die Gegend bringt, muss krank sein, ein Junkie vielleicht. Anders kann sich Helmut Dammann-Tamke den Müll vor seinen Füßen nicht erklären. Das dritte Mal nun, dass jemand Abfall vor dem Maisfeld ausgekippt hat. Immer das gleiche Gewirr aus Essensresten und Plastik. Normalerweise würde er den Unrat einsammeln und sich nicht weiter aufregen. Wäre da nicht diese polnische Wurstverpackung im letzten Haufen gewesen. Seitdem ist der Jäger in Sorge. Er fürchtet, das Virus, das Osteuropa und Asien ins Chaos stürzt, könnte nun auch Niedersachsen erreichen.
Helmut Dammann-Tamke, 57 Jahre alt, ein schlaksiger Mann im Karohemd, ist nicht nur Präsident der Landesjägerschaft, er ist auch Landtagspolitiker und Schweinebauer. Und die Seuche, von der er spricht, heißt Afrikanische Schweinepest. Das Virus kann Menschen nichts anhaben, aber für Haus- und Wildschweine ist es tödlich. Ein Fieber, das die Tiere brutal wegrafft. Wo das Virus wütet, sind die Folgen verheerend. Allein in China: eine Million Schweine notgeschlachtet. Straßen werden verriegelt, Desinfektionscheckpoints durchziehen das Land. Auch in Osteuropa: Tausende tote Tiere. Tausende Menschen, die ihre Arbeit verlieren. Einige Staaten sehen weg, andere bekämpfen die Seuche. Tschechien schickt Scharfschützen in die Wälder, um die Wildschweine auszurotten. Dänemark zieht einen Zaun an der Grenze zu Deutschland, ein Schutzwall gegen Schweine: 70 Kilometer Stahl, anderthalb Meter hoch, einen halben tief, zehn Millionen Euro teuer. Bloß: Helfen wird das nicht.
Das Virus reist, ohne dass jemand davon Notiz nimmt. Es liegt auf Lastern und tingelt auf Transportern quer durch Europa. Niemand weiß genau, wie die Seuche von Georgien, über die Ukraine bis nach Polen gelangt ist. Keine absoluten Sicherheiten, nur Theorien. Die wahrscheinlichste: Das Virus könnte in Form einer Wurst durch Europa gefahren worden sein. Ein osteuropäischer Fernfahrer dürfte ein Stück Fleisch, das von einem erkrankten Tier stammt, auf seiner Tour gen Westen dabei gehabt haben. Womöglich hat der Fahrer nur eine Hälfte der Wurst gegessen und die andere am Rand einer Raststätte entsorgt. Den Rest könnte dort ein Wildschwein gefressen und sich infiziert haben.
„Die Seuche kommt nicht auf vier Beinen zu uns, sondern auf vier Rädern“, sagt Helmut Dammann-Tamke. Das Maisfeld streckt sich entlang eines Schotterweges, keine 20 Kilometer vor Stade. Davor steht der Jäger, breitet die Arme aus und deutet mit seinen Zeigefingern in beide Richtungen. Links wuchert der Wald, sein Revier, wo 25 Wildschweine leben. Rechts liegen die Äcker, dahinter sein Außenstall mit 600 Schweinen. Dazwischen der Haufen Müll, darunter zuletzt auch Reste einer polnischen Wurst. Ein Ort, an dem klar wird, wie allgegenwärtig die Gefahr ist. Inzwischen haben sich auch in Belgien Schweine infiziert, 60 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Der Jäger sagt: „Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis das Virus nach Niedersachsen kommt.“ Kurz hat er zu Beginn des Sommers gedacht: Die Seuche ist längst da.
Ein Sonnabend im Juni, Anruf für den Jäger, am Apparat ein aufgeregter Angler. Er hat ein totes Wildschwein gefunden, ganz in der Nähe. Das Tier liegt an einem Teich, der Hinterlauf im Wasser, der Kopf darüber. Sofort denkt Dammann-Tamke an die Nachrichten und an die Wurstreste vor dem Maisfeld. Er glaubt: Das Schwein muss Fieber gehabt haben. Vielleicht hat das Tier infiziertes Fleisch gefunden und sich angesteckt. Dann taumelte es noch zum Tümpel, bevor die Seuche es dahingerafft hat. Der Jäger denkt: Verdammt, warum muss es ausgerechnet hier losgehen? Er ruft die Kreisveterinärin an, sie fährt zum Teich und nimmt Blutproben. Ein paar Stunden später dann die Entwarnung: keine Afrikanische Schweinepest im Landkreis Stade. Noch nicht.
Was passiert, wenn es soweit ist? An einem grauen Sommertag sitzt Eberhard Haunhorst in einem ebenso grauen Bürobau am Rand von Oldenburg und spielt die Szenarien durch. Haunhorst ist Präsident des Landesamtes für Verbraucherschutz und Lebenssicherheit. Er probt den Ernstfall. Lässt jedes Jahr Tausende Wildschweine untersuchen. Bereitet Landwirte, Tierärzte und Jäger auf den Moment vor, wenn die Seuche eintrifft. Man sei gewappnet, kein Grund zur Sorge, das Problem liege woanders, sagt er. „Ich habe Angst vor einer panischen Überreaktion der Abnehmerländer.“ Womöglich könnte schon ein infiziertes Tier genügen, damit der Markt für Schweinefleisch zusammenbricht. Der Schaden, schätzt der Bauernverband, läge in Milliardenhöhe. Haunhorst soll verhindern, dass das Virus auf die Ställe überschwappt. Dass die Seuche ausbricht, wird er nicht verhindern können. Stattdessen Schadensbegrenzung, schwer genug. „Wenn wir das Virus einmal bei den Wildschweinen haben“, sagt er, „dann werden wir es so schnell nicht wieder los.“
Warum das so ist, will Helmut Dammann-Tamke im Wald vor Stade zeigen. Er lenkt seinen Wagen über einen Feldweg an den Rand einer Lichtung. Dann steigt er aus und stapft über Gräser, bis er vor einer Schicht aus Schilf anhält, dem Versteck der Wildschweine. „Kein Durchkommen“, sagt er, „das ist eine grüne Wand.“ Erst ab November, wenn es friert und das Schilf brüchig und braun wird, kann er hier jagen. Bis dahin ist die Gefahr unsichtbar. Sollte die Seuche ausbrechen, müsste er wohl alle Wildschweine im Revier töten. Könnte kompliziert werden. An einer anderen Stelle im Wald hat er deshalb Buchenholzteer an einen Stamm geschmiert. Der Geruch des Teeres lockt die Schweine an. Am Baum gegenüber hängt eine Kamera. Sie filmt, wenn sich die Tiere an der Buche reiben. Einmal in der Woche geht Dammann-Tamke in den Wald, tauscht die Speicherkarten aus und schaut sich die neuen Videos an. Er will wissen, mit wem er es da draußen zu tun hat.
Die Tür knarzt. Dammann-Tamke sperrt sie auf und bittet in den Außenstall. Kacheln an den Wänden, Fliesen auf dem Boden, alles kühl, steril. Gummistiefel an, Overall auch. Schnell noch die Hände waschen. Das Virus überträgt sich vor allem über Schweiß und Blut, nicht über die Luft. Dammann-Tamke will vorführen: Egal, wie schwierig die Sache mit den Wildschweinen wird. Wer die Standards beachtet, hält das Virus draußen. Er sagt: „So wirklich nervös macht mich das alles nicht.“ Wieder draußen, vor dem Maisfeld, will er dann aber doch auf Nummer sicher gehen. Er siebt noch einmal durch den Müll. Diesmal keine polnische Wurst dabei, dafür Kassenbons. Er fischt die Zettel heraus und nimmt sie mit in den Wagen. Soll nicht mehr allein seine Sache sein. Darum können sich nun auch die Behörden kümmern.
Und so sehr ich das wünschte, so wenig glaube ich, dass das Verfassungsgericht ...