
Dreye/Hesel. Am Tag danach verrät nur noch das blaue Dixie-Klo, das verlassen an der Industriestraße steht, dass hier im Industriegebiet Dreye in den vergangenen Tagen einiges anders war als sonst. Landwirte haben an der Zufahrt zum Aldi-Zentrallager rund 48 Stunden lang demonstriert und campiert. Am Dienstagabend haben sie ihre Sachen zusammengepackt und das Areal wieder verlassen, blitzeblank aufgeräumt.
Auch in Hesel im Landkreis Leer, in Beverstedt im Landkreis Cuxhaven, in Salzgitter und in Rinteln hatte es in den vergangenen Tagen Protestaktionen und Blockaden gegeben. Im Industriegebiet Dreye ist jetzt wieder Alltag. Alle paar Minuten rollen Lkw über die Straße, viele mit dem Aufdruck Aldi. Alles wieder gut also?
Wer wissen will, wie es um das Seelenleben der Bauern in diesen Monaten bestellt ist, der muss mit Jan-Bernd Stolle sprechen. Es dauert nicht lange, und es bricht regelrecht heraus aus dem 52-Jährigen. Seit 32 Jahren sei er Landwirt, sagt Stolle, aber so eine Notsituation habe er noch nie erlebt. „Wir Landwirte stehen mit dem Rücken zur Wand“, sagt er, „Kollegen bekommen keine Kredite mehr bei den Banken, sie wissen nicht, wie es im neuen Jahr weitergehen soll. Viele von uns werden alles verlieren. Und wenn wir Bauern verlieren, verlieren auch alle anderen, auch die Verbraucher.“
Stolle, der einen Hof in Großenkneten betreibt, war nicht in Dreye, sondern bei den Protesten in Hesel. Bis zu 500 Traktoren sollen in der Zeit von Sonntagnacht bis Dienstagabend vor Ort gewesen sein. Auslöser der landesweiten Aktionen war eine angekündigte Senkung der Butterpreise durch Aldi. Dem Bündnis „Land schafft Verbindung“ zufolge, das zu den maßgeblichen Organisatoren des Protests gehört, wollte Aldi Nord den Preis für Butter pro Kilo um bis zu 60 Cent senken, üblich sind sonst zum Jahresende Kürzungen von zehn bis 20 Cent. „Wie sollen wir davon leben?“, fragt Stolle. Aldi widerspricht der Darstellung, dass in der jüngsten Ausschreibungsrunde der Butterpreise „gedrückt“ werden solle, sondern spricht stattdessen davon, dass es üblich sei, dass die Butterpreise wegen der hohen Nachfrage zur Weihnachtszeit steigen und zum Jahresbeginn dann wieder sinken.
Trotz Minustemperaturen hatten die Landwirte an den verschiedenen Aldi-Lagern in Norddeutschland ausgeharrt, Nachtwachen in Schichten organisiert und sich mit Decken und an Feuertonnen gewärmt. Sie würden nicht eher abziehen, bis Aldi reagiere und konkrete Vorschläge für Verbesserungen mache, hatten die Organisatoren frühzeitig erklärt. Tatsächlich hat sich Aldi inzwischen bewegt. „Wir suchen den Dialog mit allen Beteiligten in der Wertschöpfungskette, um weitere Verbesserungen zu erreichen“, sagte ein Sprecher von Aldi Nord am Mittwoch. Zugesagt haben Aldi Nord und Süd schon mal, dass sie künftig konventionelle und Bio-Frischmilch nur noch aus Deutschland beziehen wollen. Außerdem strebe das Unternehmen langfristige Verträge an, um den Landwirten eine bessere Planungssicherheit zu geben. Wie das Prozedere bisher aussah, beschreibt Eylert Ahrens, Landwirt aus Kirchweyhe und Protestteilnehmer in Dreye, so: „Aldi teilt den Preis mit. Verhandelt wird da nicht.“
Die aktuellen Zugeständnisse sind ein kleiner Erfolg für die Bauern, die aber skeptisch bleiben. „Es muss generell ein Umdenken her in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft“, sagt Stolle, „es ist doch traurig, dass nur etwas passiert, wenn man Druck macht, so wie wir jetzt.“ Besonders sauer seien er und seine Kollegen auf Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU), sagt Stolle. „Sie taucht in dieser Situation einfach ab. Das finden wir sehr, sehr enttäuschend. Aber wenn sie nicht zu uns kommt, kommen wir eben zu ihr nach Berlin.“ Dort, das wisse jeder Fußballfan, komme es ja immer zum Endspiel.
Vor dem Finale sind aber offenbar noch ein paar Verhandlungsrunden angesetzt. Am 13. Januar etwa sind in Niedersachsen Vertreter der Landespolitik, aus dem Handel, der verarbeitenden Industrie und der Landwirtschaft zu einer Videokonferenz verabredet. Und auch der Weg der abziehenden Bauern führte am Dienstag nicht direkt zurück auf den heimischen Hof. Am Mittwoch blockierten Landwirte ein Edeka-Zentrallager in Westerholtsfelde im Landkreis Ammerland. Auch vor einem Lidl-Lager in Hildesheim machten Trecker Station. An beiden Standorten trafen die Unternehmen und Bauern Vereinbarungen für weitere Gespräche.
Landwirt Stolle aus Großenkneten sagt: „Es gibt für uns Bauern keinen Plan B – außer mit dem Beruf aufzuhören. Aber das kommt nicht in Frage.“ Jedenfalls nicht kampflos.
Der Protest und die Forderungen
Seit mehr als eineinhalb Jahren gehen die Bauern jetzt schon regelmäßig auf die Straße. Auch in Bremen hat es in dieser Zeit große Treckerdemos gegeben; die größte mit über 4000 Landwirten Anfang des Jahres. Die jüngste Aktion fand im vergangenen November statt, als Landwirte zum Sitz des Deutschen Milchkontors am Flughafen Bremen zogen, um für bessere Milchpreise zu demonstrieren.
Die treibende Kraft hinter den Protesten ist nicht der Deutsche Bauernverband, von dem viele Landwirte enttäuscht sind. Sie organisieren sich inzwischen lieber selbst, die bekanntesten Zusammenschlüsse sind „Land schafft Verbindung“ und die „Freien Bauern“. Sie beide gehören auch zu einem Bündnis, das sich Milchdialog nennt und für eine bessere Bezahlung kämpft, damit Höfe eine Zukunft haben. Die Vereinigung, zu der unter anderem auch der Bundesverband Deutscher Milchviehhalter und die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft zählen, fordert mindestens 15 Cent mehr für den Liter Milch, mindestens einen Euro mehr für das Kilo Rindfleisch und 50 Cent für Schweinefleisch sowie mindestens 20 Cent mehr pro Kilo Geflügel.