Der Stress ist Michaela Menken anzusehen. Die junge Mutter steht unter Druck. Nach langer Pause hat sie einen Zehn-Stunden-Job in der Apotheke gefunden und wieder „einen Fuß in der Tür“ des Berufslebens. Doch wohin mit den Kindern? Bei der Tagesmutter muss Jannis, der Ältere, im Sommer raus. Es ist Mai, und die Lilienthalerin hat weder einen Krippenplatz noch einen Kindergartenplatz. Sie ist nicht die Einzige. Mehr als 20 Müttern geht es ähnlich. Dabei steht ihnen nach dem Gesetz ein Betreuungsplatz zu. „Saure Muttis“ nennen sie sich im Facebook-Netzwerk. Nun machen sie in einem Brief an den Bürgermeister Druck.
„Eine gute Kinderbetreuung und frühe Förderung für alle Kinder gehören zu den wichtigsten Zukunftsaufgaben in Deutschland“, betont das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. „Damit junge Menschen ihren Wunsch nach Kindern auch verwirklichen können, sind bedarfsgerechte Betreuungsangebote, gute Qualität und Trägervielfalt zu gewährleisten.“ Das Kinderbetreuungsgesetz gibt Eltern einen Rechtsanspruch auf Betreuungsplätze für ihre ein- bis dreijährigen Kinder. Die Kommunen müssen ihn erfüllen und tun sich schwer damit.
Als das Bundesgesetz verabschiedet wurde, rechneten Experten damit, dass 30 Prozent der Eltern von ihrem Recht Gebrauch machen würden. Weit gefehlt. Im Kreis Osterholz liegt die Versorgungsquote bei 45,2 Prozent. In städtisch strukturierten Kommunen wie Lilienthal ist die Quote höher. „Im vergangenen Jahr lagen wir bei 52 Prozent“, sagt Andreas Cordes, Fachbereichsleiter im Rathaus. Heute suchen 64 Prozent der Lilienthaler Eltern einen Platz in der Krippe oder bei einer Tagesmutter.
30 Familien sind unversorgt. „Wir versuchen, in jedem Einzelfall eine Lösung zu finden.“ Cordes hat etliche Gespräche mit verärgerten Müttern geführt, die auf den Rechtsanspruch pochen. Auf die Schnelle kann er ihnen nicht helfen. Bis zum Beginn des neuen Kindergartenjahres sollen 25 Krippenplätze geschaffen werden.
Michaela Menken (30) und Judith Lührs (27), Tabea Malarczuk (31) und Alexandra Ossmers (43) finden das unmöglich. „Wie soll eine betroffene Familie, insbesondere der wieder in den Beruf einsteigende Elternteil, unter diesen Umständen eine geregelte Arbeitssituation schaffen, wenn keine Aussage bezüglich des Wiedereinstiegs gegenüber dem Arbeitgeber getroffen werden kann?“, fragen die „Sauren Muttis“ im Brief an Lilienthals Bürgermeister Willy Hollatz, der noch im Urlaub ist.
Michaela Menken war froh über das Jobangebot, das vor einem Jahr kam: Zehn Stunden pro Woche in einer Apotheke in Oberneuland. Wieder im erlernten Beruf als Pharmazeutisch-kaufmännische Angestellte zu arbeiten, das war ihre Chance. Michaela Menke suchte „händeringend“ nach einem Betreuungsplatz für ihre beiden Kleinkinder. „Du musst einen Fuß in die Tür kriegen“, hat sie sich gesagt. Bald hatte sie „alle Tagesmütter durch“, am Ende kamen die Kleinen bei „einer ganz lieben Tagesmutter“ in Seebergen unter. Die Lilienthalerin begann zu arbeiten. Zwei Monate später bedauerte die Tagesmutter: Sie sei schwanger und höre Ende des Jahres auf. Wieder begann die Suche nach einem Betreuungsplatz.
Für Jannis, den Älteren, hätte sie einen Krippenplatz in Wührden bekommen, doch für Linus war kein Platz frei. So landeten die Kleinen bei Tagesmüttern in Lilienthal. Seitdem arbeitet Michaela Menken an zwei Nachmittagen und einem Vormittag in Oberneuland. Doch im Februar ist Jannis drei geworden und passt nicht mehr in die Kleinkindergruppe der Tagesmutter. Wieder bewarb sich die 30-Jährige um eine Betreuung. Momentan sei kein Platz frei, hieß es im Rathaus. Doch es sollten noch Plätze geschaffen werden. Vielleicht könnte sie einen Krippenplatz in Wührden bekommen und einen Kindergartenplatz in Seebergen. „Wie soll ich das machen? Ich wohne in Lilienthal-Mitte und arbeite in Oberneuland“, fragt die junge Mutter. „Was soll ich meiner Chefin sagen?“
Alexandra Ossmers nimmt ihr jüngstes Kind mit zur Arbeit in die Schroeterschule. Da arbeitet sie als pädagogische Mitarbeiterin. „Ich betreue Kinder, deren Eltern arbeiten, und muss mein Kind mitnehmen, weil ich selber keinen Betreuungsplatz habe“, klagt die 43-Jährige.
Judith Lührs ist mit ihrem Mann vor vier Jahren aus Berlin gekommen, Lionel ist jetzt 19 Monate alt. „Wir haben im letzten Jahr ’ne Absage bekommen“, erklärt die 27-Jährige. In diesem Jahr ist das nicht anders. Denn Judith Lührs gilt als versorgt, weil sie einen Platz bei einer Tagesmutter gefunden hat. Dafür zahlt sie mehr als doppelt so viel. Judith Lührs hat den Landkreis auf Erstattung der Mehrkosten verklagt – bisher vergeblich (mehr dazu im Text unten auf dieser Seite). Tabea Malarczuk sucht einen Krippenplatz für den zweieinhalbjährigen Tyro – bisher vergebens.
Seit August 2013 gebe es einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab dem ersten Geburtstag, kritisieren die „Sauren Muttis“ in ihrem Brief an Bürgermeister Willy Hollatz. Ihre Kinder seien seit der Geburt in der Gemeinde gemeldet. „Wie kann es sein, dass der Bedarf an Krippen- und Kindergartenplätzen trotzdem nicht gedeckt werden kann?“
Ohne Rücksicht auf die Nachfrage Krippenplätze für alle Kinder zu schaffen, sei nicht möglich, erklärt Andreas Cordes, der Fachbereichsleiter. „Bedarf ist das, was nachgefragt wird. Das zeigt sich erst bei den Anmeldeterminen.“ Auf der Basis der Anmeldungen überlege die Gemeinde zusammen mit den 14 Kindertagesstätten, wie sie den Bedürfnissen der Eltern gerecht werden könne. Deshalb seien die Betreuungszeiten in einigen Kindertagesstätten schon bis 15 oder 16 Uhr ausgedehnt worden. Doch auch das sei in einer Kita nur möglich, wenn drei oder mehr Elternteile das wünschten und bereit seien, entsprechend höhere Beiträge zu zahlen.
Zwar hat der Bund den Rechtsanspruch beschlossen. Doch den müssen die Kommunen teuer bezahlen. „Im Krippenbereich werden uns nur 52 Prozent der Personalkosten erstattet“, erklärt Cordes. 45 Prozent der Gesamtkosten für den Betrieb der Kitas bleiben bei den Kommunen hängen. Für die hoch verschuldete Gemeinde Lilienthal bedeutet das: Pro Jahr muss sie für den Betrieb der 14 Kindertagesstätten knapp zwei Millionen Euro berappen.